Familienzusammenführungsrichtlinie erfordert individuelle Prüfung der Lebensunterhaltsdeckung beim Familiennachzug

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Die Generalanwältin Sharpston hat in ihren Schlussanträgen vom 10. Dezember 2009 in der Rechtssache C 578/08 Rhimou Chakroun zu den Anforderungen des Rechts auf Familienzusammenführung nach der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung – ABl. L 251, S. 12, im Folgenden: RL 2003/86/EG) Stellung genommen. Insbesondere der Begriff „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ und die Relevanz des Zeitpunkts „familiärer Bindungen“ wurden näher konkretisiert.

Sachverhalt

Das Ausgangsverfahren betrifft den Antrag einer marokkanischen Staatsangehörigen, ihrem Ehegatten, ebenfalls einem marokkanischen Staatsangehörigen, der sich seit 1970 rechtmäßig in den Niederlanden aufhält und den sie 1972 heiratete, nachzureisen. Ihr Ehegatte hat feste und regelmäßige Einkünfte, die zwar zur Deckung des allgemeinen Lebensunterhalts ausreichen, ihn aber nicht vom Anspruch auf bestimmte Formen besonderer Sozialhilfe ausschließen. Solche besondere Sozialhilfe wird in gestaffelter Höhe gewährt und steht ab einem Einkommen zwischen 120 % und 130 % des Mindestlohns nicht mehr zu. Die Frage ist daher, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG einem Mitgliedstaat erlaubt, eine Einkommensschwelle in einer Höhe festzulegen, die jede Möglichkeit des Rückgriffs auf diese Form besonderer Sozialhilfe ausschließt.
In diesem Kontext bittet der Raad van State (Staatsrat) um weiterführende Hinweise zum Kriterium „ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ und fragt, ob die Richtlinie eine Differenzierung danach gestattet, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Mitgliedstaat entstanden sind. Der Schwellenwert von 120 % des Mindestlohns gilt nur für den letztgenannten Fall.

Der Raad van State hat dem Gerichtshof daher folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Bedeutet die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie, dass diese Bestimmung einem Mitgliedstaat erlaubt, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führt, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet wird, der nachgewiesen hat, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache in Anspruch nehmen kann?

2.      Ist die Richtlinie, insbesondere Art. 2 Buchst. d, dahin auszulegen, dass diese Bestimmung einer nationalen Regelung entgegensteht, in der bei der Anwendung des Einkommenserfordernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c danach unterschieden wird, ob familiäre Bindungen vor oder nach der Einreise desjenigen, der sich in dem Mitgliedstaat aufhält, entstanden sind?

 

Rechtliche Erwägungen

Die Generalanwältin führt aus, dass es keinen Grund gebe, der es rechtfertigen könnte, danach zu unterscheiden, ob die Familieneinheit vor der Einreise oder nach der Einreise gegründet wurde. Sie führt hierzu aus:

„Der Betrag, der für den Lebensunterhalt des Zusammenführenden und seiner oder ihrer Familie erforderlich ist, ohne dass Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen werden müssen – und den die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c verlangen dürfen –, kann selbstverständlich von verschiedenen Umständen abhängen, wie z. B. der Zahl und dem Alter der Familienangehörigen, ihrem Betreuungsbedarf oder ihrer Arbeitsfähigkeit. Aber wie hoch dieser Betrag auch sein mag – er hängt normalerweise nicht davon ab, ob die familiären Bindungen vor oder nach dem Zeitpunkt entstanden sind, zu dem der Zusammenführende rechtmäßig im Aufnahmestaat ansässig wurde.“

Weiterhin stellt sie fest: „Art. 17 verlangt außerdem, dass bei abschlägigen Entscheidungen über die Familienzusammenführung verschiedene individuelle Umstände berücksichtigt werden. Die Richtlinie verlangt somit eine individuelle Prüfung jedes einzelnen Antrags und schließt eine pauschale Anwendung abstrakter Schwellenwerte unter Außerachtlassung der konkreten Fallumstände aus“. Ist damit eine Einzelfallentscheidung maßgeblich, so muss diesem Ansatz auch im Rahmen der Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Rechnung getragen werden. Den Anforderungen an eine Einzelfallprüfung wird die Entscheidung des 1. Senats des Bundesverwaltungsgerichts 26. August 2008  kaum gerecht. Der Senat stellt zwar zutreffend fest, dass die Auslegung von § 2 Abs. 3 AufenthG mit der Richtlinie 2003/86/EG vereinbar sei, jedoch wird ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nur angenommen, „wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug geboten ist, z. B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist“. Damit wurde der Ausnahmefall auf besondere, atypische Umstände reduziert, bei denen insbesondere eine Herstellung der Familieneinheit ausschließlich im Bundesgebiet möglich ist (sog. „elsewhere approach“).

Denn es ist zu beachten, dass die Familiennachzugsrichtlinie – anders als die Menschenrechtskonvention – für die Kernfamilie in Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG einen Nachzugsanspruch vorsieht. Damit geht die Richtlinie über den in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Anspruch auf Achtung des Familienlebens deutlich hinaus mit der Folge, dass der durch die Menschenrechtskonvention gewährte „margin of appreciation“ in diesen anspruchsbegründenden Fällen grundsätzlich nicht mehr besteht.

Die Systematik der Richtlinie geht nicht von einer automatischen Sperre bei einem drohenden Sozialleistungsbezug aus. Fehlen die erforderlichen Mittel des Zusammenführenden, um unabhängig von Sozialleistungen leben zu können, so führt dies nicht zu einer Regelnachzugssperre. Denn Art. 17 RL 2003/86/EG fordert in allen Fällen der Ablehnung eines Antrags auf Familiennachzug eine Einzelfallabwägung.

Folgerichtig kommt die Generalanwältin zu dem Ergebnis, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG die Festlegung einer bestimmten Einkünfteschwelle so lange nicht ausschließt, „als sie die Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles ermöglicht“.

Weiterhin stellt sie fest: „In Anbetracht des Erfordernisses einer Prüfung von Fall zu Fall, das die gesamte Richtlinie durchdringt, kann meines Erachtens die bloße Möglichkeit, bestimmte Sozialhilfeformen unter außergewöhnlichen Umständen (die ihrerseits von Fall zu Fall geprüft werden) beanspruchen zu können, kein Grund für die systematische Ablehnung von Anträgen auf Familienzusammenführung sein. Im Gegensatz dazu sind Einkünfte in einer Höhe, die automatisch zum Bezug von Sozialhilfeleistungen durch eine Einzelperson oder eine Familie führen, ein Fall, der klar unter die von Art. 7 Abs. 1 Buchst. c zugelassene Voraussetzung fällt.“

Ergebnis
Die Generalanwältin schlägt dem Gerichtshof vor, die Fragen des Raad van State wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung stehen einer nationalen Regelung entgegen, in der bei der Anwendung des Einkünfteerfordernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. c danach unterschieden wird, ob familiäre Bindungen vor oder nach der Einreise desjenigen, der sich in dem Mitgliedstaat aufhält, entstanden sind, soweit sie nicht auf objektiven Faktoren beruht, die an die Höhe der für den Lebensunterhalt des Zusammenführenden und seiner oder ihrer Familie erforderlichen Einkünfte anknüpfen, und soweit sie unabhängig von den Umständen des Einzelfalls gilt.

2.      Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 gestattet einem Mitgliedstaat nicht, ein Einkünfteerfordernis festzulegen, das systematisch zur Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung in Fällen führt, in denen die zusammengeführte Familie keinen automatischen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen hat, sondern nur einen potenziellen Anspruch unter außergewöhnlichen Umständen.

Art. 7 Abs. 1 RL 2003/86/EG bestimmt:
"Artikel 7
(1) Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt:
a) Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsnormen erfüllt;
b) eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind;
c) feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreicht. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen."

Zu weiteren Einzelheiten siehe hier:

Lebenunterhaltssicherung und Familienzusammenführungsrichtlinie