Der EuGH hat mit Urteil vom 4. März 2010 in der Rechtssache C‑578/08 (Rhimou Chakroun) eine grundlegende Entscheidung zu den Anforderungen der Lebensunterhaltssicherung nach der Familienzusammenführungsrichtlinie (Rl 2003/86(EG) beim Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen getroffen. Die Entscheidung führt zur Notwendigkeit, die Regelerteilungsvoraussetzung zur Lebensunterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG richtlinienkonform auszulegen. Außerdem muss die Frage der Berücksichtigung der Freibeträge für die Aufnahme einer Beschäftigung bei der Berechnung der Lebensunterhaltsdeckung neu geprüft werden.
Der Gerichtshof geht von dem in der Familienzusammenführung geregelten Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Danach gilt Folgendes: „Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei von ihrem Wertungsspielraum Gebrauch machen könnten (Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769, Randnr. 60). Diese Bestimmung steht jedoch unter dem Vorbehalt der Einhaltung der u. a. in Kapitel IV der Richtlinie genannten Bedingungen. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie ist Teil dieser Bedingungen und gestattet den Mitgliedstaaten, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Darin heißt es weiter, dass die Mitgliedstaaten diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit beurteilen und die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen können. Da die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt, ist die durch Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie verliehene Befugnis eng auszulegen. Ferner darf der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde. In dieser Hinsicht ergibt sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie, dass Maßnahmen zur Familienzusammenführung in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden sollten, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Die Richtlinie steht nämlich im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Art. 8 EMRK und der Charta anerkannt wurden. Daher sind die Bestimmungen der Richtlinie, u. a. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c, im Licht der Grundrechte und insbesondere des Rechts auf Achtung des Familienlebens auszulegen, das sowohl in der EMRK als auch in der Charta verankert ist. Hinzu kommt, dass die Europäische Union nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung (ABl. C 303, S. 1) niedergelegt sind; die Charta und die Verträge sind rechtlich gleichrangig. Der Gerichtshof stellt klar, dass der Begriff „Sozialhilfeleistungen des … Mitgliedstaats“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der nicht anhand von Begriffen des nationalen Rechts ausgelegt werden kann. In Anbetracht insbesondere der Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei der Handhabung der Sozialhilfe ist dieser Begriff dahin zu verstehen, dass damit eine Sozialhilfe gemeint ist, die von öffentlichen Behörden auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene gewährt wird. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c Satz 1 der Richtlinie stellt dem Begriff „feste und regelmäßige Einkünfte, die … für seinen Lebensunterhalt … ausreichen“ den Begriff „Sozialhilfe“ gegenüber. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass mit dem Begriff „Sozialhilfe“ in der Richtlinie eine Hilfe gemeint ist, die von den öffentlichen Behörden auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene gewährt wird und die ein Einzelner, in diesem Fall der Zusammenführende, in Anspruch nimmt, wenn er nicht über feste und regelmäßige Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und desjenigen seiner Familie verfügt und deshalb Gefahr läuft, während seines Aufenthalts die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Dezember 2007, Eind, C‑291/05, Slg. 2007, I‑10719, Randnr. 29). Art. 7 Abs. 1 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie gestattet den Mitgliedstaaten, bei der Beurteilung der Einkünfte des Zusammenführenden die Höhe der nationalen Mindestlöhne und -renten zu berücksichtigen. Wie in Randnr. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist diese Befugnis auszuüben, ohne dass das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt werden.“ Gegen die bisherige Praxis wird klargestellt, dass eine automatische Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung ohne Einzelfallprüfung beim Unterschreiten des Mindestbetrags für die Lebensunterhaltssicherung mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist: „Da der Umfang der Bedürfnisse sehr individuell sein kann, ist diese Befugnis ferner dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten einen bestimmten Betrag als Richtbetrag angeben können, jedoch ist sie nicht dahin zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten ein Mindesteinkommen vorgeben könnten, unterhalb dessen jede Familienzusammenführung abgelehnt würde, und dies ohne eine konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers. Diese Auslegung wird durch Art. 17 der Richtlinie gestützt, der eine individualisierte Prüfung der Anträge auf Zusammenführung verlangt.“ Die Systematik der Familienzusammenführungsrichtlinie geht nicht von einer automatischen Sperre bei einem drohenden Sozialleistungsbezug aus. Fehlen die erforderlichen Mittel des Zusammenführenden, um unabhängig von Sozialleistungen leben zu können, so führt dies nicht zu einer Regelnachzugssperre. Denn Art. 17 RL 2003/86/EG fordert in allen Fällen der Ablehnung eines Antrags auf Familiennachzug eine Einzelfallabwägung.
„Artikel 17
Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“
Der Art. 17 RL 2003/86/EG gilt auch für die Visumserteilung. Denn die Regelung erfasst nicht die Ablehnung eines Antrags auf "Erteilung des Aufenthaltstitels", sondern nur die Ablehnung eines Antrags. Diese Unterscheidung ist wichtig, da der Begriff Aufenthaltstitel in Art. 2 Buchstabe f RL 2003/86/EG durch Verweis auf Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a VO 1030/2002/EG definiert wird. Mit dem Abstellen auf einen Aufenthaltstitel nach Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a VO 1030/2002/EG werden Visa nach Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a i VO 1030/2002/EG ausdrücklich als Aufenthaltstitel ausgenommen.
Da der Wortlaut des Art. 17 RL 2003/86/EG den Begriff Aufenthaltstitel nur an die beiden Alternativen "Entzug" und "Nichtverlängerung" knüpft, bleibt der Anwendungsbereich der Norm für das Visumverfahren erhalten. Insoweit verwendet Art. 17 RL 2003/86/EG die gleiche Begrifflichkeit wie Art. 5 RL 2003/86/EG. Auch in dieser Norm wird entweder von einem Antrag "auf Einreise und Aufenthalt" (Absatz 1) oder schlicht von dem Antrag (Absätze 2 bis 5) nicht aber von einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gesprochen.
Dies ist auch terminologisch konsequent, da das Europarecht mit einem Visum nicht die Legalisierung des anschließenden Aufenthalts verbindet, sondern nur die Rechtmäßigkeit des Grenzübertritts regelt.
Zu weiteren Einzelheiten siehe die Abhandlung zu den Auswirkungen der Familienzusammenführung auf die Lebensunterhaltsdeckung.
Der Gerichtshof hat außerdem den Begriff der „Sozialhilfe“ rechtlich konkretisiert. Dabei hat er erkennen lassen, dass das Erfordernis einer Lebensunterhaltsdeckung nur den Mindestbetrag abdecken soll. Soweit die Mitgliedstaaten mit der Lebensunterhaltsdeckung zugleich außergewöhnliche oder unvorhergesehene Bedürfnisse zu befriedigen wollen, ist die damit verbundene Erschwerung des Familiennachzugs nicht zulässig. Gleiches könnte in Bezug auf die Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung gelten, für die nach dem SGB II spezielle Freibeträge eingeführt wurden.
Der EuGH führt hierzu aus: „Der Begriff „Sozialhilfe“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er sich auf eine Hilfe bezieht, die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleicht, nicht aber eine Hilfe, die es erlauben würde, außergewöhnliche oder unvorhergesehene Bedürfnisse zu befriedigen.
…
Nach dem Vorstehenden ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, eine Regelung für die Familienzusammenführung zu treffen, die dazu führt, dass die Familienzusammenführung einem Zusammenführenden nicht gestattet wird, der nachgewiesen hat, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um die allgemein notwendigen Kosten des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte die besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts, einkommensabhängige Befreiungen von Abgaben nachgeordneter Gebietskörperschaften oder einkommensunterstützende Maßnahmen im Rahmen der gemeindlichen Politik für Einkommensschwache („minimabeleid“) in Anspruch nehmen kann.“