Es bleibt nach dem gestrigen Gipfel der EU Innen- und Justizminister fraglich, ob das EU-Rückübernahmeabkommen mit der Türkei in absehbarer Zeit ratifiziert und umgesetzt werden wird. Wie erwartet, ist beim gestrigen Gipfel des Rates der Justiz- und Innenminister der Entwurf der Kommission zu einem Rückübernahmeabkommen (readmission) mit der Türkei angenommen worden.
Angesichts der jahrelang andauernden Verhandlungen fällt die gestrige Presseerklärung über den Beschluss überraschend dürftig aus.
EU-Turkey readmission agreement
Ministers reached political agreement on a draft EU Turkey readmission agreement. The Commission may now proceed to the initialling of the draft agreement with Turkey. At the same time, the Council adopted conclusions. The Commission and several member states also entered declarations into the minutes of the Council meeting.
Die Kommission werde unverzüglich in einen Dialog über die Visaerleichterungen mit der Türkei eintreten, wenn die Türkei sie hierzu einlade, verkündete die Kommissarin Malmström gegenüber der Tageszeitung Hürriyet. Offensichtlich konnte sich die Kommission in einer zentralen Forderung der Türkei, nämlich die Verhandlungsführerschaft gegenüber den Mitgliedstaaten an sich zu ziehen, nicht durchsetzen.
Bereits einen Tag vor dem Gipfel sickerte nach einer dpa-Meldung durch, dass es bei den Mitgliedstaaten bei dem Gedanken über Visaerleichterungen schon Vorbehalte gebe.
Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu erklärte ungewöhnlich klar, die Türkei erwarte von der Europäischen Union keinen Visumdialog, sondern eine Befreiung von der Visumpflicht. Dieser Beschluss erfülle die Erwartungen der Türkei nicht. Die Türkei akzeptiere unter keiner Bedingung die unterschiedliche Behandlung eines Landes. Die Türkei wolle eine Befreiung von der Visumpflicht, keinen Visumdialog. Ohne Einleitung des Prozesses einer Befreiung von der Visumpflicht könne die Umsetzung des Rücknahmeabkommens für Migranten nicht beginnen.
Er verweist darauf, dass die EU mit vielen Ländern Rückübernahmeabkommen und die Visafreiheit vereinbare. Selbst das im nächsten Monat in Kraft tretende Rückübernahmeabkommen mit Georgien werde mehr Rechte einräumen, als das was der Türkei derzeit angeboten werde.
Die Türkei sei ein Beitrittskandidat und verlange die Gleichbehandlung mit allen alten und künftigen Beitrittskandidaten.
Die Haltung der EU ist durchsichtig: Obwohl die Türkei ihre Position deutlich formuliert hat, will man nach Ratifizierung des Abkommens der Türkei vorhalten, dass sie sich nicht an die Vereinbarung halte.
Die EU ist aber selbst ein schlechtes Vorbild, was die Rechtstreue anbelangt. Insoweit kann auf die Verschlechterungsverbote aus Art 41 Zusatzprotokoll und Art. 13 ARB 1/80 sowie die hierzu ergangene Spruchpraxis des EuGH hingewiesen werden. Für Deutschland heißt es spätestens seit der letzten EuGH Entscheidung Oguz und Toprak (EuGH, U.v. 09.12.2010, C-300/09), dass die Frage der Visafreiheit eindeutig geklärt ist.
In seiner Entscheidung Toprak hat der EuGH unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass das Verschlechterungsverbot sich nicht nur auf Gesetze beziehe, sondern auch Runderlasse und die Verwaltungspraxis einschließe (vgl. Rn 30).
Die nicht nachvollziehbare Haltung der Bundesregierung, die den Begriff der Dienstleistungsfreiheit im Assoziationsabkommen anders als sonst in den EU-Verträgen dahin gehend definiert, dass er nur aktive und nicht passive Dienstleistungen erfasst, ist somit hinfällig.
Der Bundesregierung wird der Nachweis nicht gelingen, dass bis zur Einführung der Visapflicht die Praxis des damaligen Bundesgrenzschutzes in den 70ern und 80ern darauf ausgerichtet war, Besucher bzw. Touristen (wobei bereits diese Unterscheidung kaum möglich ist) von der visafreien Einreise abzuhalten und zurückzuschieben. Kein Bundesgrenzschutzbeamter hat seinerseits gefragt: „Wollen sie aktive oder passive Dienstleistungen verwirklichen?“. Es wurde lediglich stichprobenartig nach der Absicht eines Daueraufenthaltes bzw. einer Erwerbstätigkeit gefragt, wie es die damalige Rechtslage vorsah. Bis 1980 sind Millionen von Türken ohne ein Hindernis ein- und ausgereist. Diese sind lebendige Beispiele für die ausgeübte Praxis. Da dies die Verwaltungspraxis in Deutschland war, ist diese nach der EuGH-Rechtsprechung auch gegen die spätere Verschlechterung geschützt, ansonsten würden die Ziele der Assoziation gefährdet.
Das politische Gezerre sollte beendet werden. Die Türkei ist gut beraten, zum ersten Mal in der Geschichte den Mechanismus des Art. 25 Assoziationsabkommens in Gang zu bringen und über den Assoziationsrat den Fall einer gerichtlichen Klärung zuzuführen.
Dies dürfte mindestens genauso schnell oder langsam erfolgen wie der eingeschlagene Weg über ein Rückübernahmeabkommen. Die EU ist angesichts der akuten Ängste über Flüchtlingsströme auf das Rückübernahmeabkommen angewiesen. Die Türkei hingegen kann auch ohne ein Abkommen auf die bestehenden Rechte pochen. Es besteht aus türkischer Sicht kein Anlass, die bestehenden Rechte aufzugeben, um noch mehr Pflichten über ein Rückübernahmeabkommen einzugehen.
Diese Fehler hat die Türkei in der Vergangenheit bereits bei der Zollunion (1995) und anderen Beschlüssen gemacht; daraus sollten Lehren gezogen werden.
Es ist unter Vertragspartnern nichts Ungewöhnliches, bei Meinungsverschiedenheiten die Gerichte anzurufen. Verschlechtern kann sich die Rechtsposition im Vergleich zur jetzigen Lage ohnehin nicht.
Beitrag von Rechtsanwalt Ünal Zeran, Hamburg, 25.02.2011
Ergänzung am 26.02.2011 durch Holger Winkelmann:
Zur Haltung der Bundesregierung siehe zuletzt Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Raju Sharma und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 17/4317 – vom 02.02.2011 (– Drucksache 17/4623 –) zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei auf das Aufenthaltsrecht.
Darin vertritt die Bundesregierung die Auffassung, die rechtlichen Wirkungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in Vorabentscheidungsverfahren europarechtlich seien nicht ausdrücklich geregelt . Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH binde ein Auslegungsurteil im Vorabentscheidungsverfahren zunächst das vorlegende Gericht sowie alle anderen im Ausgangsverfahren entscheidenden Gerichte.
Die Bundesregierung ignoriert damit, dass nach überwiegender Ansicht in gleicher Weise das Urteil des Gerichtshofes de facto auch andere nationale Gerichte und die Verwaltungen der Mitgliedstaaten in der Anwendung des Rechtes bindet , die mit demselben Problem befasst werden (= erga omnes-Wirkung), auch wenn dem EuGH nicht die Funktion eines „Ersatzgesetzgebers“ oder einer obersten Instanz nationaler Gerichte zukommt.
Siehe hierzu in MNet:
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) (360.28 kB 2010-01-20 20:50:11)