EuGH klärt Anforderungen für den Entzug der Flüchtlingseigenschaft bei schweren Straftaten

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Der Gerichthof der EU hat am 6. Juli 2023 wichtige Entscheidungen zur Aberkennung und Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft verkündet. Der Gerichtshof erläutert die Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Maßnahme gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der wegen einer Straftat verurteilt wurde. 

Im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Drittstaatsangehörigen und einer nationalen Behörde (in Belgien, Österreich und den Niederlanden) wurden dem Gerichtshof drei verschiedene Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt. In diesen Rechtsstreitigkeiten ging es konkret um die Anfechtung von Entscheidungen über die Aberkennung oder die Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf Drittstaatsangehörige, die wegen einer von den zuständigen Behörden als besonders schwer eingestuften Straftat verurteilt worden waren.
Diese Möglichkeit der Aberkennung bzw. Ablehnung ist im Unionsrecht1 für den Fall vorgesehen, dass der wegen einer „besonders schweren“ Straftat rechtskräftig Verurteilte eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

In der Rechtssache C-8/22 wird der Gerichtshof vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) danach gefragt, welcher Zusammenhang zwischen einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und dem Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit besteht und in welchem Umfang zu prüfen ist, ob eine solche Gefahr besteht.

Der Gerichtshof entscheidet, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Denn eine zur Aberkennung getroffene Maßnahme hängt davon ab, dass zwei unterschiedliche Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

Der Gerichtshof stellt klar, dass die angefochtene Aberkennungsmaßnahme nur erlassen werden darf, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Er fügt hinzu, dass die zuständige Behörde in jedem Einzelfall eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände dieses Falls vorzunehmen hat.
Sind die beiden im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, kann ein Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft aberkennen, ohne jedoch verpflichtet zu sein, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Von dieser Möglichkeit ist insbesondere unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Gebrauch zu machen.

Gerade im Hinblick auf diesen Grundsatz und die notwendige Abwägung der Interessen des Flüchtlings gegen diejenigen des Mitgliedstaats in Bezug auf die Gefahr, die der Betroffene für die Allgemeinheit darstellen könnte, befragt das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) den Gerichtshof in der Rechtssache C-663/21.
Zu dieser Abwägung führt der Gerichtshof aus, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft von der Feststellung der zuständigen Behörde abhängt, dass eine solche Maßnahme in Bezug auf die Gefahr verhältnismäßig ist, die der betreffende Drittstaatsangehörige für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Die zuständige Behörde ist jedoch nicht verpflichtet, im Rahmen dieser Abwägung Ausmaß und Art der Maßnahmen zu berücksichtigen, denen der Drittstaatsangehörige bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre.

Schließlich befragt der Conseil d’État (Staatsrat, Niederlande) in der Rechtssache C-402/22 den Gerichtshof ausdrücklich zum Begriff der „rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat“ und möchte wissen, anhand welcher Kriterien eine Straftat als solche angesehen werden kann.

Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass eine Maßnahme der Aberkennung bzw. Ablehnung nur auf einen Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann, der wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, die aufgrund ihrer spezifischen Merkmale insofern als Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, angesehen werden kann, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Dieser Schweregrad kann überdies nicht durch eine Kumulierung verschiedener Straftaten erreicht werden, von denen keine als solche eine besonders schwere Straftat darstellt. Die Beurteilung des Schweregrads beinhaltet eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände des fraglichen Falls, wie etwa insbesondere Art und Maß der angedrohten und erst recht der verhängten Strafe, die Art der begangenen Straftat, etwaige mildernde oder erschwerende Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch die Straftat verursachten Schäden sowie die Art des Strafverfahrens zur Ahndung der Straftat.

Die Volltexte der Urteile (C-8/22, C-663/21und C-402/22) finden Sie im Rechtsprechungsüberblick unter der Anerkennungsrichtlinie – Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).