Die Diskussion über die Erforderlichkeit, den Ex-Leibwächter von Osama bin Laden nach Deutschland zurückzuholen wird in den letzten Tagen in der Regel als politische Forderung formuliert, da ihr rechtlich die Grundlage fehlt. Die Politik instrumentalisiert eine Rückholentscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, um die aus ihrer Sicht zu harte Abschiebungspraxis anzuprangern. Doch was sind die Fakten:
Die Abschiebung durch die Ausländerbehörde war nicht rechtswidrig, denn die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen hat mit Beschluss vom 11. Juli 2018 (8 L 1240/18), die Abschiebungsandrohung für rechtmäßig erachtet. Soweit hier behauptet wird, dass die Kammer die Abschiebungsverbote nicht habe prüfen müssen, ist diese Ansicht mit dem Gesetz unvereinbar. § 59 Abs. 3 AufenthG verlangt im Rahmen der Überprüfung einer Abschiebungsandrohung immer auch die Prüfung von Abschiebungsverboten:
„Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.“
Darf die Abschiebungsandrohung keinen Zielstaat angeben, in dem ein Abschiebungsverbot besteht, so kann eine Entscheidung, die eine Abschiebungsandrohung insgesamt, d. h. einschließlich des Zielstaats Tunesien, für rechtmäßig erklärt, nur so verstanden werden, dass ein Abschiebung in diesen Staat rechtlich zulässig ist. Das Gericht ist nicht an die Entscheidung des Bundesamtes gebunden, mit dem das Vorliegen von Abschiebungsverboten widerrufen wurde. Es muss daher das Vorliegen von Abschiebungsverboten von Amts wegen prüfen.
Die Abschiebung wird auch nicht deshalb rechtlich angreifbar, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die 7a. Kammer des Verwaltungsgerichts nicht von der bevorstehenden Abschiebung informiert hat. Auch wenn das Verschweigen der bevorstehenden Abschiebung die Grundlagen der Zusammenarbeit von Gerichten und Behörden in Frage stellt, weil das Gericht nicht mehr auf die Richtigkeit von Aussagen einer an Gesetz und Recht gebundenen Behörde vertrauen darf, führt dies nicht gegenüber der Ausländerbehörde, die an dem konkreten Verfahren nicht beteiligt war, zu einem stichhaltigen Vorwurf. Die Ausländerbehörde hatte in ihrem Verfahren vor der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen obsiegt und durfte von der Rechtmäßigkeit der Rückführung des Sami A. nach Tunesien ausgehen. Das Fehlverhalten einer Bundesbehörde kann nicht zur Rechtswidrigkeit einer Handlung der Landesbhörde führen, da es keine Grundlage für die Zurechenbarkeit der Desinformation durch das Bundesamt gibt.
Auch macht der am Freitag von der 7a. Kammer erlassene Beschluss, die aufschiebende Wirkung gegen den Widerrufsbescheid des Bundesamtes in Bezug auf die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten die Abschiebung wiederherzustellen, den eingeleiteten Abschiebungsvorgang nicht rechtswidrig. Hier ist zunächst zwischen den Rechtswirkungen des Beschlusses und den Auswirkungen auf den tatsächlichen Abschiebungsvorgang zu differenzieren. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes hat zur Folge, dass rückwirkend das Bestehen von Abschiebungsverboten wieder auflebt. Der Beschluss veränderte die Rechtslage zu Gunsten von Sami A. daher nicht nur ab seiner Zustellung, sondern wirkte in die Vergangenheit zurück mit der Folge, dass die Ausländerbehörde eine Abschiebung nicht mehr hätte durchführen dürfen. Denn anders als das Verwaltungsgericht ist die Ausländerbehörde an die Feststellungen des Bundesamtes in Bezug auf Abschiebungsverbote gebunden.
Lag infolge der Rückwirkung der gerichtlichen Entscheidung im Zeitpunkt der Abschiebung ein Abschiebungsverbot vor, so ändert dies aber nichts an dem tatsächlichen Zustand, dass die Abschiebung zu einem Zeitpunkt vollzogen wurde, zu dem dies rechtlich zulässig war. Auch wenn der Beschluss von den Richtern bereits am Donnerstag unterzeichnet wurde, wird er für die Beteiligten erst mit Zustellung wirksam. Behörden können ihr Handeln nur an der Rechtslage ausrichten, die aktuell im Zeitpunkt des Handelns gilt. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Abschiebung ist daher auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem sie eingeleitet wurde und nicht mehr zu stoppen war.
Hier wird der Vorwurf laut, das Flugzeug hätte doch einfach zurückfliegen können. Dieses Argument verkennt die rechtlichen Besonderheiten des Flugverkehrs. Die Entscheidung, den Flug abzubrechen, lag ausschließlich in der Verantwortung des Flugkapitäns, der die Bordgewalt ausübt. Es ist zudem naiv zu glauben, dass die Ausländerbehörde dem Piloten Anweisungen hätte geben können, den Flug abzubrechen. Ein Abbruch des Fluges wäre nur denkbar gewesen, wenn der Auftraggeber des Fluges die Chartergesellschaft ersucht hätte, den Flug nicht durchzuführen und nach Deutschland zurückzukehren. Die Chartergesellschaft hätte dann dem Flugkapitän die Bitte weiterleiten können. Dieser hätte entschieden, ob eine Rückkehr ohne Gefährdung des Fluges noch möglich gewesen wäre.
Aber selbst für den Fall, dass dies zeitlich möglich gewesen wäre, ist keinesfalls sichergestellt, dass ein Abbruch des Fluges hätte erfolgen können. Bei einem Passagierflug ins Ausland werden die Passagierlisten an das Zielland übermittelt. Das bedeutet, dass die tunesischen Behörden den Namen des auch von ihnen gesuchten Tunesiers kannten. Wenn der Pilot des Fluges also die Absicht gehabt haben sollte im tunesischen Luftraum umzukehren, dann wäre das nur mit Genehmigung der Tunesier möglich gewesen. Wahrscheinlich wäre dem Wunsch nicht entsprochen worden. Die Tunesier hätten auf der Durchführung des genehmigten Fluges bestanden; sie hätten es sicherlich nicht zugelassen, dass der gesuchte Mann ihr Hoheitsgebiet wieder verlassen darf.
Nun bleibt noch die Frage offen, ob eine Rückholung von Sami A. wegen drohender Folter in Tunesien erfolgen müsste. Diese Fragestellung erweist sich als sonderbar, da der Betroffene sich bereits in den Händen der Sicherheitskräfte Tunesiens befindet. Hält sich Sami A. in Haft auf, ohne gefoltert worden zu sein, so wäre die Prognoseentscheidung, dass ihm dort Folter droht, faktisch wiederlegt.
In Bezug auf die Gefahrenlage ist auch eine aktuelle Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von Interesse (BVerwG, Beschluss vom 30. August 2017 – 1 VR 5/17 –):
„b) Die vom Antragsteller angesprochene Gefahr der Todesstrafe besteht hier nicht mit entscheidungserheblicher Wahrscheinlichkeit. Die Gefahr einer Todesstrafe ist dann zu beachten, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Betroffene individuell von der Todesstrafe bedroht wird (BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 1987 - 1 C 29.85 - BVerwGE 78, 285 <295>). Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 (S. 12, 17) ist zwar mit dem am 7. August 2015 in Kraft getretenen Antiterrorgesetz die Todesstrafe für terroristische Straftaten in Tunesien eingeführt worden. Seit Jahresbeginn 2015 wurden gegen mehrere Dutzend Terroristen rechtskräftige Urteile, darunter auch Todesurteile verhängt. Es ist indes nicht ersichtlich, dass dem Antragsteller, dessen Verhalten bereits in Deutschland noch nicht die Schwelle der Strafbarkeit erreicht, in Tunesien die Todesstrafe droht. Denn nach dem tunesischen Antiterrorgesetz (vgl. Art. 14 Abs. 2) wird die Todesstrafe nur in besonders schweren Fällen verhängt. Ein besonders schwerer Fall liegt hiernach in der Regel vor, wenn der Täter durch die terroristische Gewalttat wenigstens leichtfertig den Tod eines anderen Menschen verursacht. Ein solcher Fall ist hier aber nicht gegeben; auch sonst gibt es bereits keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass eine Verhängung der Todesstrafe drohte. Dann aber ist nicht zu vertiefen, welche Bedeutung dem Umstand beizumessen ist, dass die Todesstrafe in Tunesien de facto nicht vollstreckt wird. Die letzte Vollstreckung fand 1991 statt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S. 17; Amnesty International Report 2016/2017, S. 4). Nach einer in einem anderen Verwaltungsstreitverfahren eingeholten und vom Antragsgegner vorgelegten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zur rechtsstaatlichen Lage in Tunesien vom 31. März 2017 gibt es keine Anzeichen für eine Aufhebung des Moratoriums (Bl. 205 Gerichtsakte). In einer vom Antragsgegner vorgelegten Verbalnote des tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 (Bl. 210 Gerichtsakte) wird ebenfalls betont, dass Tunesien ein Moratorium einhält.
c) Die Gefahr der Folter oder einer anderen in Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung oder Bestrafung im Falle der Abschiebung des Antragstellers erscheint gering, kann aber nach dem im vorliegenden Verfahren verfügbaren Erkenntnisstand nicht mit der gebotenen Gewissheit ausgeschlossen werden (Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG). Dies gilt insbesondere deswegen, weil der Antragsteller - unwiderlegt - geltend macht, er habe sich beim Generalkonsulat der Tunesischen Republik in Bonn vergeblich um einen Pass bemüht und der Generalkonsul habe ihm mitgeteilt, dass das tunesische Innenministerium "wegen Terrorismusgefahr" keinen Pass ausstellen wolle.
Tunesien befindet sich in einem allgemeinen demokratischen Transitionsprozess, der in vielen Bereichen, unter anderem auch im Justizbereich, noch nicht abgeschlossen ist (Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 31. März 2017, Bl. 205 Gerichtsakte). Mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung durch die Verfassungsgebende Versammlung am 26. Januar 2014 gelang Tunesien ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer demokratischen Staatsordnung. Sie beinhaltet unter anderem die Garantie universeller Menschenrechte und die Garantie der Unabhängigkeit der Justiz. Art. 23 der tunesischen Verfassung garantiert den Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit, verbietet seelische und körperliche Folter und schließt eine Verjährung des Verbrechens der Folter aus. Art. 128 der tunesischen Verfassung sieht die Gründung einer unabhängigen Instanz für Menschenrechte ("Menschenrechtskommission") mit beratender Funktion vor (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S. 5, 16). Mit der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe am 29. Juni 2011 hat sich Tunesien zur Einrichtung eines nationalen Präventionsmechanismus (NPM) verpflichtet. Mit Gesetz vom 23. Oktober 2013 wurde eine innerstaatliche Rechtsgrundlage zur Bildung einer unabhängigen Instanz für Folterprävention (INPT) geschaffen, zu deren Aufgabe die Durchführung unangemeldeter Besuche in allen Orten des Freiheitsentzugs gehört sowie die Beratung von Exekutive und Legislative bei der Verbesserung des rechtlichen Rahmens und der Rechtswirklichkeit (Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 31. März 2017, Bl. 206 Gerichtsakte). Im Sommer 2016 ist eine überarbeitete Version der Strafprozessordnung in Kraft getreten, wonach der Polizeigewahrsam maximal vier Tage betragen darf. Darüber hinaus wurde das Recht des Verdächtigen auf einen Rechtsbeistand (auch schon während des Polizeigewahrsams) kodifiziert. Generell wird die neue Strafprozessordnung von Nichtregierungsorganisationen als großer Fortschritt beurteilt, wobei aber auch hier Umsetzungsdefizite bestehen, die den Verantwortlichen in Tunesien bewusst sind (Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 31. März 2017, Bl. 205 Gerichtsakte). Ausnahmen gelten jedoch für Beschuldigte, die unter das Antiterrorgesetz vom 7. August 2015 fallen. Sie dürfen bis zu 15 Tage in polizeiliche Untersuchungshaft genommen werden; der Zugang eines Anwalts kann dabei für 48 Stunden nach Ingewahrsamnahme auf Anordnung des Untersuchungsrichters oder eines Staatsanwalts verweigert werden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2015, S. 13). Bislang liegen nur wenige konkrete Erfahrungen zu der Anwendung des Antiterrorismusgesetzes vor. Die neu eingeführte Untersuchungsinstanz in Terrorangelegenheiten hat ihre Arbeit jedoch inzwischen aufgenommen und bemüht sich um eine umfassende Aufarbeitung (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S. 12). Den Reformwillen stellt die tunesische Regierung auch dadurch unter Beweis, dass das tunesische Justizministerium mit zahlreichen nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen Vereinbarungen getroffen hat, die ihnen Besuche in Haftanstalten etc. ermöglichen. Seit 2005 besteht überdies eine Vereinbarung zwischen der Regierung und dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), die es dem IKRK ermöglicht, die Haftanstalten zu besuchen und der Regierung periodisch zu berichten (Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 31. März 2017, Bl. 207 Gerichtsakte).
Amtliche Informationen oder Statistiken, die belastbare Aussagen über Menschenrechtsverletzungen (insbesondere gegenüber Terrorverdächtigen) zulassen, liegen nicht vor. Die tunesische Regierung räumt aber mit wiederholten Bekenntnissen zur Folterprävention und zum Kampf gegen die Straflosigkeit von Amtspersonen, die sich entsprechender Vergehen schuldig gemacht haben, indirekt Verfehlungen ein und verspricht eine juristische Aufarbeitung solcher Vorwürfe (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S. 16; Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 31. März 2017, Bl. 206 Gerichtsakte). Hinsichtlich der bereits in 2017 nach Tunesien abgeschobenen Gefährder gibt es keine Erkenntnisse, dass diese von den tunesischen Behörden in nichtrechtsstaatlicher Weise behandelt wurden (Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 31. März 2017, Bl. 205 Gerichtsakte). Tunesische und internationale Medien sowie spezialisierte Nichtregierungsorganisationen, wie beispielsweise die "Organisation contre la Torture en Tunisie" (OCTT), berichten über Einzelfälle von rechtswidrigen Verletzungen der körperlichen oder seelischen Unversehrtheit von Personen bis ins Jahr 2016 hinein (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017, S. 16 f.). Amnesty International berichtet davon, dass einige der nach dem Anschlag auf das Bardo-Museum und dem Angriff auf die Stadt Ben Guerdane festgenommenen Verdächtigen nach eigenen Angaben gefoltert worden seien (Amnesty international Report 2016/2017, S. 2).“
Fazit: Eine Rückholung von Sami A. – wenn Tunesien dies überhaupt zulassen würde – ist rechtlich nicht geboten, da der Abschiebungsvorgang rechtmäßig erfolgt ist.