Gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 06.11.2014 (BVerwG 1 C 4.14) wurde wegen Verletzung des gesetzlichen Richters Verfassungsbeschwerde erhoben. Mit der Verfassungsbeschwerde wird gerügt, dass der Senat die Frage, ob eine wirksame Steuerung der Migrationsströme ein hochrangiges Gemeinwohlziel ist, das Rechte aus der Stillhalteklausel beschränken kann, nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung zugeleitet hat.
Mit einer News wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Senat gut daran getan, zu prüfen, ob Migrationssteuerung ein legitimes Ziel ist, dass man einer Stillhalteklausel in einem auf Beitritt gerichteten Assoziierungsabkommen entgegenhalten kann. Dies erscheint doch sehr zweifelhaft. Denn der auf Beitritt gerichtete völkerrechtliche Vertrag mit der Türkei soll gerade im wirtschaftlichen Bereich die Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer, Selbstständigen und Dienstleistungserbringer regeln und hier gegenüber sonstigen Drittstaatsangehörigen Privilegierungen begründen. Die Regelung des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls hat ersichtlich auch das Ziel, ein Verschlechterungsverbot in Bezug auf Migrationsbewegungen von Dienstleistungserbringern und Selbstständigen zu begründen. Dies hat der Gerichtshof in der Soysal-Entscheidung in Bezug auf türkische Fernfahrer ausdrücklich anerkannt. Denn nicht einmal die Migrationssteuerung durch die VisumVO konnte der Visumfreiheit der Einreise entgegengehalten werden.
Türkische Staatsangehörige sind nicht nur „einfache" Drittstaatsangehörige im Sinne des Art. 79 Abs. 1 AEUV, sondern genießen aufgrund des Beitrittsprozesses erhebliche Privilegien. Dieser besondere Status wird vom 1. Senat vollständig negiert, indem er türkische Staatsangehörige sonstigen Drittstaatsangehörigen gleichgestellt.
Es spricht einiges dafür, dass das Assoziierungsabkommen den Mitgliedstaaten – aber auch der EU – im Bereich der Migrationssteuerung türkischer Arbeitnehmer, Selbstständiger und Dienstleistungserbringer enge Grenzen setzt. Denn das Ziel des Assoziierungsabkommens, eine Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse, ist nur schwer erreichbar, wenn der wirtschaftliche Austausch der EU mit der Türkei durch Behinderung der Wanderungsbewegungen Selbstständiger, Dienstleistungserbringer oder Arbeitnehmer und ihrer Familienangehöriger unterbunden oder erschwert wird. Dass Zuzugsbeschränkungen in Bezug auf den Nachzug von Familienangehörigen erhebliche Auswirkungen auf die im Bundesgebiet wirtschaftlich aktiven türkischen Staatsangehörigen haben, hat der Gerichtshof in der Rechtssache Dogan hinreichend deutlich gemacht.
Die unionsrechtlichen Fragen müssen einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union zugeführt werden, da andernfalls zu befürchten ist, dass sämtliche Rechtspositionen, die sich aus der Stillhalteklausel im Zusammenhang mit dem nationalen Recht ergeben, inhaltlich ausgehöhlt werden. Diese Gelegenheit hat das Bundesverwaltungsgericht verpasst, sodass nur andere Gerichte gehalten sind, die unionsrechtlichen Zweifelsfragen dem Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren vorzulegen.
Mainz, 2.1.2015
Dr. Dienelt