Verfehlte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs führt zum ungewollten Kindergeldbezug von nichtfreizügigkeitsberechtigten Unionbürgern

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Die Frage, ob neue Vorschriften zur Bekämpfung eines Missbrauchs des Bezugs von Kindergeld durch Unionsbürger erforderlich sind, stellt sich nicht. Vielmehr muss der Gesetzgeber auf die verfehlte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Urteil vom 15.03.2017 - III R 32/15) zum Kindergeldbezug von Unionsbürgern reagieren. Dieses Urteil führt die durch den Beschluss vom 27.04.2015 (III B 127/14) vorgezeichnete Linie fort und führt zum einem vom Gesetzgeber erkennbar nicht gewollten Ergebnis.

Nach der gesetzlichen Regelung des § 62 Absatz 2 Einkommensteuergesetz ist die Rechtslage klar und eindeutig geregelt, nur ein „freizügigkeitsberechtigter“ Unionbürger erhält Kindergeld. Das Merkmal „freizügigkeitsberechtigt“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Unionbürger von seiner im Unionsrecht wurzelnden Freizügigkeit Gebrauch machen muss. Um festzustellen, ob dies der Fall ist, ist zunächst die Erkenntnis wichtig, dass keinesfalls jeder Unionbürger, der sich in Deutschland aufhält, Freizügigkeit genießt. Unionsbürger, die nicht freizügigkeitsberechtigt sind, halten sich zwar rechtmäßig im Bundesgebiet auf (sog. Freizügigkeitsvermutung – besser: Rechtmäßigkeitsvermutung), bis die Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeit feststellt, diese Rechtsstellung hat aber nichts mit Freizügigkeit zu tun. Ein Unionsbürger, der keinerlei finanzielle Mittel hat und nicht beabsichtigt, sich wirtschaftlich zu betätigen (z. B als Arbeitnehmer, Selbstständiger, Dienstleistungserbringer usw.), hat daher mangels Freizügigkeitsberechtigung keinen Anspruch auf Kindergeld.

Dieses System stellt der Bundesfinanzhof mit seiner Rechtsprechung auf den Kopf, wenn er die Freizügigkeitsberechtigung erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts auf Freizügigkeit als nicht mehr gegeben erachtet. Damit wird, ohne dass das Gesetz hierzu einen Anhaltspunkt gibt, der Bezug von Kindergeld solange ermöglicht, bis die Ausländerbehörde tätig wird. Hintergrund der Entscheidung ist die fehlerhafte Einschätzung, dass für Staatsangehörige der Europäischen Union gemäß Art. 21 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, früher: Art. 18 EG) ein von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht dauerhaft gilt, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt. Zwar hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten --vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen-- frei zu bewegen und aufzuhalten. Es handelt sich um ein unmittelbar anwendbares subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger, auch den Angehörigen, unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zusteht, jedoch verschafft dieses nach Art. 6 Unionbürgerrichtlinie bzw. § 2 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU nur ein Aufenthaltsrecht für die Dauer von drei Monaten. Diese zeitliche Limitierung des Rechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV verkennt der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung.

Wozu führt nun die mit dem Wortlaut des § 62 Absatz 2 Einkommensteuergesetzes nicht zu vereinbarende Auslegung des Tatbestandsmerkmals „freizügigkeitsberechtigt“? Unionsbürger, die im Bundesgebiet leben, um Sozialleistungen zu beziehen, erhalten Kindergeld, bis die Ausländerbehörde eine Verlustfeststellung erlassen hat.

Nun gibt es aber für die Ausländerbehörde gute Gründe, keine Verlustfeststellung zu erlassen. Dies wird an einem Beispiel deutlich: Ein Unionsbürger, der keinerlei finanzielle Mittel hat und nicht beabsichtigt, sich wirtschaftlich zu betätigen (z. B als Arbeitnehmer, Selbstständiger, Dienstleistungserbringer usw.), erhält aufgrund der aktuellen Rechtslage nur noch bis zur Ausreise zeitlich begrenzte Überbrückungsleistungen. Die Verweigerung von Sozialleistungen führt in der Regel dazu, dass Unionbürger, die das Sozialleistungssystem ausnutzen wollen, das Bundesgebiet verlassen. Grundlage dieser Sanktion ist – auch für Unionsbürger – ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen durch das „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und in der Sozialhilfe nach dem SGB XII“ (BGBl I 2016, 3155). Erfasst sind Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II; § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII); es besteht lediglich ein zeitlich begrenzter Anspruch auf Überbrückungsleistungen („bis zur Ausreise“; vgl. § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII).

Durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entsteht ein Systembruch, denn Kindergeld muss weitergezahlt werden, auch wenn SGB II-Leistungen bereits eingestellt sind. Ein Ergebnis, dass kaum nachvollziehbar ist und auf einer Verkennung des Merkmals „freizügigkeitsberechtigt“ in § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetz beruht.

Nun könnte eingewandt werden, dass es doch wünschenswert sei, dass die Ausländerbehörde eine Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit erlässt, um auch den Kindergeldanspruch zum Wegfall zu bringen. Dabei wird aber verkannt, welche Auswirkungen eine Verlustfeststellung auf die Leistungsgewährung bei Unionsbürgern hat. Die Verlustfeststellung führt zwar zum Wegfall des Kindergeldanspruchs, sie hat aber in der Regel zur Folge, dass ein unbefristeter Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz entsteht. Grund hierfür ist eine Lücke im Gesetz, da der Gesetzgeber zwar SGB II und SGB XII-Leistungen für nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ausgeschlossen hat, nicht aber Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für geduldete Unionsbürger.

Fazit: Es gibt einfachere und effektivere Möglichkeiten, um den Kindergeldanspruch auf die Unionsbürger zu beschränken, die wirklich Freizügigkeit genießen. Der Gesetzgeber muss nur dafür sorgen, dass die Familienkassen, wie auch die sonstigen Sozialbehörden, das Vorliegen der Freizügigkeit prüfen müssen. Mit dieser einfachen Korrektur wird auch die Diskussion über ein Absenken des Kindergeldanspruchs in Bezug auf im Ausland lebende Kinder von Unionsbürgern entbehrlich, zumal dieser Weg unionsrechtlich unzulässig und daher rechtlich kaum realisierbar ist.