1. Allgemeines

2. Einführung

3. Begriff Freiheitsentziehung

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1. Allgemeines:

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Das Bundeskabinett hatte am 09. Mai 2007 den Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG) verabschiedet.
Nach Abschluss der Ausschussberatungen über den Gesetzentwurf (Drs. 16/6308 vom 07.09.2007)

icon Gesetzentwurf FamFG - Drucks. 16/6308 - vom 07.09.2007

und den hieraus resultierenden Änderungen ist die Reform vom Bundestag am 27. Juni 2008 in 2. und 3. Lesung beschlossen worden.
Der Bundesrat befasste sich am 19. September 2008 abschließend mit dem Gesetz.
Das Gesetz wurde am 22. Dezember 2008 im BGBl Teil I Nr. 61, S. 2586 ff. veröffentlicht und trat mit Masse am 01. September 2009 in Kraft.

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Das Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) war keine in sich geschlossene Verfahrensordnung, sondern ein lückenhaftes Rahmengesetz aus dem 19. Jahrhundert, das nur in einem geringen Umfang allgemeine Regeln enthielt, in vielen Bereichen undifferenziert auf die Zivilprozessordnung (ZPO) verwies, durch eine Vielzahl unsystematischer Sonderregelungen und vor allem durch eine unübersichtliche Regelungstechnik (insbesondere im Bereich Familiensachen) auffiel. Das Reformverfahren dieses rd. 100 Jahre alten Gesetzes dauerte rd. 50 Jahre.

„Das Gesetz ist in seiner Ursprungsfassung am 17. Mai 1898 vom deutschen Kaiser Wilhelm II. unterschrieben worden. Schon damals – hören Sie zu! – hat der Kaiser in seiner Weisheit anderthalb Jahre Zeit gelassen, bevor es in Kraft getreten ist, nämlich zum 1. Januar 1900. Ich werde auf dieses Problem noch zu sprechen kommen. Es ist ein Gesetz, das in seinem Titel den Begriff „freiwillig“ beinhaltet. Ich habe nachgeschaut, wie dieses Gesetz in verwandten Rechtsordnungen heißt. Die Schweizer haben es früher einmal die „willkürliche Gerichtsbarkeit“ genannt. Mit Willkür hat es vielleicht nicht so viel zu tun gehabt; mit Freiheit und mit Freiwilligkeit hat es aber nie etwas zu tun gehabt. Es ist ein Gesetz, das erhebliche Eingriffe in Grundrechte regelt, zum Beispiel Freiheitsentziehung – Zwangsunterbringung und Abschiebehaft –, körperliche Unversehrtheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Eingriffe ins Postgeheimnis, Eingriffe in Elternrechte und in Kinderrechten“ (Auszug aus der Rede von Jerzey Montag am 27.06.2008 im Bundestag).

Das FGG-RG enthält in seinem Artikel 1 das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) mit 491 Paragrafen, welches seit 01.09.2009 auch das Verfahren in Freiheitsentziehungssachen bestimmt. Das FEVG oder auch FreihEntzG wurde aufgehoben (Artikel 112).
Es waren 109 Artikel für Änderungsanweisungen erforderlich, u.a. für das BPolG, das AufenthG und das AsylVfG.

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Soweit es um die bundesrechtliche Freiheitsentziehung geht, ist - sofern das Verfahren bundesrechtlich nicht anders geregelt ist - insbesondere der Allgemeine Teil des FamFG in Buch 1 und das Buch 7 über das Verfahren in Freiheitsentziehungssachen (§§ 415 - 432) zu beachten.
Mit dem Gesetz soll auch in diesem besonderen Verfahren die Rechtszersplitterung mit Verweisungen auf das bisherige Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit beseitigt werden. Der Regelungsinhalt des bisherigen Gesetzes ist grundsätzlich erhalten geblieben. Die Vorschriften sind mit dem Allgemeinen Teil und mit den besonderen Verfahrensregelungen in Betreuungs- und Unterbringungssachen abgestimmt worden. Dies sind vor allem die Regelungen über die Beteiligten, den Verfahrenspfleger, die Anhörung und die Beschwerde. Es ist daher nach dem neuen Verfahrensrecht zu prüfen, inwieweit die allgemeinen Bestimmungen durch speziellere Regelungen aus dem Buch 7 verdrängt werden (so auch Hoppe, ZAR, 7, 2009, S. 209 f.).
Wie auch bisher im Verfahren zur Regelung von Freiheitsentziehungssachen spiegelt sich im neuen Verfahrensrecht wider, dass der Rechtsstaat aus guten Gründen strenge Regeln auferlegt hat, die Grund, Grenze und Dauer von freiheitsentziehenden Maßnahmen klar bestimmen (vgl. dazu Art. 104 GG). Das Verfahren bei solchen Maßnahmen ist formalisiert und dem Richter zugewiesen (= Grundrechtsschutz durch Verfahren, Gusy in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 104, Rn. 13).
Aufgrund des Verfahresvorrangs nach dem FamFG unter Berücksichtigung des bundesrechtlichen Ausschlusses kommt für die Anwendung dieses Gesetzes insbesondere in Betracht (ausf. bei Jennissen in: Prütting/Helms, FamFG, § 415 Rn. 2f.; Grotkopp in: Bahrenfuss (Hrsg.), FamFG, § 415, Rn. 3):

  • Anordnung von Vorbereitungs- und Sicherungshaft gegen Ausländer
  • zwangsweise Unterbringung nach dem Infektionsschutzgesetz
  • Freiheitsentziehungen nach Bundespolizeigesetz
  • Gewahrsamnahmen nach dem Bundeskriminalamtsgesetz und dem Zollfahndungsdienstgesetzes
  • Haft zur Durchsetzung der räumlichen Beschränkung bei Asylbewerbern
  • Haft zur Durchsetzung ausländerrechtlicher Mitwirkungspflichten ("Botschaftsvorführung")

Die Landespolizeigesetze verweisen mit Masse - bis z.B. auf Ausnahme von Sachsen und Niedersachsen - auf das FamFG. So verweist das Nds. SOG in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 auf das Nds. FGG (insoweit nicht zutreffend bei Budde, in: Keidel, FamFG, 17. Aufl., § 415 Rn. 2). Wenn jedoch noch Polizeigesetze nach dem 01.09.2009 auf das alte Recht nach dem FEVG verweisen, und mangels Gesetzesaktualisierung nicht das FamFG berücksichtigen, kann dies nicht als dynamische Verweisung auf das nunmehr geltende Bundesrecht (also §§ 415 f. FamFG) ausgelegt werden. Es bleibt damit bei der Anwendung des bisherigen Rechts (BGH, B. v. 07.12.2010 – StB 21/10 –, bei Winkelmann, Migrationsrecht.net zu § 22 Sächs. PolG).

icon BGH – StB 21/10 – B. v. 07.12.2010

Eine dynamische Auslegung statischer Verweise ist insbesondere dann unzulässig, wenn diese auf eine nicht mehr gültige Norm verweisen und sodann auf das FamFG einschließlich der Regelungen über die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof verstanden bzw. in diesem Sinne „korrigierend“ ausgelegt werden (im Anschluss an BGH, OLG Celle, B. v. 14.09.2011 – 22 W 2/11 –, bei Winkelmann, a.a.O.).

icon OLG Celle – 22 W 2/11 – B. v. 14.09.2011

Der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz findet bei allen Formen staatlichen Handelns Anwendung. Bei Rechtsvorschriften verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz, die Vorschriften so "zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist" (BVerfGE 49, 168, 181). Ein Beschluss, der sich auf nicht mehr existente Rechtsgrundlagen stützt ist formell rechtswidrig (vgl. LG Göttingen, B. v. 03.03.2009 – 11 T 1/09 –, bei Winkelmann, a.a.O.).

icon LG Göttingen – 11 T 1/09 – B. v. 03.03.2009

Insoweit bleibt zu der Auffassung des BGH und des OLG Celle kritisch anzumerken, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot eine Anwendung überhaupt nicht mehr existierender Rechtsvorschriften befremdlich erscheint. Die (Landes)Gesetzgeber wären gut beraten, das Verfahrensrecht auf für Rechtsanwender nachvollziehbare Vorschriften zu stützen.

Ausführlich zum Thema Freiheitsentziehung im OK zu § 62 AufenthG.


2. Einführung:

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Das FamFG enthält in Buch 1 (§§ 1-110) grundsätzliche Verfahrensregelungen, die bisher u.a. im FGG geregelt waren.

Insbesondere sind folgende Verfahrensvorschriften zu beachten:

  • Das Antragserfordernis (§ 23)
  • Die Amtsermittlungspflicht in § 26 (auch Untersuchungsgrundsatz oder Inquisitionsmaxime, Brinkmann, in: Schulte-Bunert/Weinreich, FamFG, 3. Aufl. 2012, § 26 Rn 2)
  • Die Persönliche Anhörung in § 34
  • Die Zwangsmittel in § 35
  • Die Entscheidung durch Beschluss in § 38, § 39 (Rechtsbehelfsbelehrung), § 40 (Wirksamwerden), § 41 (Bekanntgabe), § 45 (Formelle Rechtskraft)
  • Die Einstweilige Anordnung in § 49
  • Das Beschwerdeverfahren in §§ 58 ff.

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Das FamFG regelt in Buch 7 (§§ 415 - 432) das Verfahren bei Freiheitsentziehungen (vormals FEVG/FreihEntzG) neu.
Dabei bleibt der bisherige Regelungsinhalt grundsätzlich erhalten.

Zu beachten sind Insbesondere:

  • Der Antrag auf Freiheitsentziehung in § 417
  • Die Persönliche Anhörung in § 420
  • Die Wirksamwerden von Beschlüssen in § 422
  • Die Aussetzung des Vollzugs in § 424
  • Die Dauer und Verlängerung der FE in § 425
  • Die Aufhebung der Freiheitsentziehung in § 426
  • Die Einstweilige Anordnung in § 427
  • Die Unverzügliche richterliche Entscheidung in § 428
  • Die Beschwerde in § 429
  • Die Benachrichtigung von Angehörigen in § 432

3. Begriff Freiheitsentziehung:

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Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1 GG) und Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) grenzt das BVerfG nach der Intensität des Eingriffs ab.
Freiheitsentziehung ist die schwerste Form der Freiheitsbeschränkung.
Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist.
Der Tatbestand der Freiheitsentziehung kommt nur in Betracht, wenn die - tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird. Die Durchführung der Abschiebung (der Zurückweisung oder Zurückschiebung) mit unmittelbarem Zwang wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht als Freiheitsentziehung eingestuft (BVerwG v. 23.6.1981 – I C 78.77 –; BVerwG v. 17.08.1982 – 1 C 85.80 –; BGH, B. v. 17.12.1981 – VII ZB 8/81 –; BGH, B. v. 25.06.1998 – V ZB 8/98 –, bei Winkelmann), sofern primär die Abschiebung und nur sekundär die Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckt wird, s. auch schon KG Berlin, B. v. 11.04.1968 – 1 W X X B 2422/67 –, Kurztext bei juris). Sinn und Zweck des Art. 104 Abs. 2 GG, der nach seiner Entstehungsgeschichte vor allem Inhaftierungen vorbeugen soll, wie sie während der nationalsozialistischen Herrschaft gegen politische Gegner angeordnet wurden, gebieten eine so weitgehende Auslegung des Freiheitsentziehungsbegriffs nicht. Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges gegen Personen zur Durchsetzung eines Verhaltens, zu dem der jeweils Betroffene verpflichtet ist, sind demgemäß nicht wegen des mit ihnen verbundenen Eingriffs in die körperliche Bewegungsfreiheit notwendig Freiheitsentziehungen, so das BVerwG 1981 (s.o.).

icon BVerwG – I C 78.77 – U. v. 23.06.1981

icon BVerwG – 1 C 85/80 – U. v. 17.08.1982

icon BGH – VII ZB 8/81 – B. v. 17.12.1981

icon BGH – V ZB 8/98 – B. v. 25.06.1998

Einer generellen Zuordnung der Direktabschiebung in den Bereich der Freiheitsentziehung wird aus rechtssystematischen Gründen nicht gefolgt (vgl. auch bei Budde, a.a.O., Rn. 7). Dies ist insbesondere nicht schon allein aufgrund des Zeitmoments und der älteren Rechtssprechung des BVerwG und des BGH (s.o.) begründbar (so aber Jennissen, a.a.O., Rn. 23; Grotkopp, a.a.O., Rn. 9; siehe auch § 62, Rn. 8;). Allerdings dürfte es nach wie vor in der Praxis durchaus schwierig sein, zweifelsfrei zu entscheiden, ob lediglich eine Freiheitsbeschränkung oder bereits eine Freiheitsentziehung vorliegt.

Die Abgrenzung ist teilweise gradueller Natur und bestimmt sich nach Intensität und Dauer der Maßnahme im Einzelfall.
Ausführlich hierzu und zur Rechtssprechung der Thematik "Unverzügliche Herbeiführung der richterlichen Entscheidung" bei Winkelmann (m.w.N.)

icon Unverzüglichkeit der richterlichen Entscheidung in Haftsachen

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Von einer Freiheitsentziehung ist jedenfalls dann auszugehen, wenn eine Person

  • in eine Gewahrsamszelle (auch nur kurzfristig) eingeschlossen wird,
  • einen bestimmten, eng umgrenzten Bereich über längere Zeit nicht verlassen darf
  • (z.B. zugewiesener Sitzplatz im Transitbereich eines internationalen Flughafens, Zimmer in der Dienststelle),
  • gefesselt wird (Gewahrsam ist jedenfalls nach bundesrechtlichen Vorschriften - vgl. § 8 UZwG-Bund - rechtliche Grundvoraussetzung) oder
  • längerfristige Wartezeiten während der Rückführung über sich ergehen lassen muss, die über eine reiseübliche und zügige Vorgangsbearbeitung deutlich hinausgehen und mit den vorgenannten Beispielen einhergehen.

§ 415 Abs. 2 FamFG fügt sich mit der Definition zum Begriff Freiheitsentziehung in diese Dogmatik ein:

Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn einer Person gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit insbesondere in einer abgeschlossenen Einrichtung, wie einem Gewahrsamsraum oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses, die Freiheit entzogen wird.

Begründung aus dem Gesetzentwurf:

In der Definition der Freiheitsentziehung wird auf den Begriff „Unterbringung“ verzichtet, um den systematischen Unterschied zu den Unterbringungssachen nach § 312 hervorzuheben. Inhaltlich soll sich mit dieser Definition gegenüber dem bisherigen Zustand des Einsperrens bzw. Einschließens der Person in einer abgeschlossenen Einrichtung grundsätzlich nichts ändern. Sehr kurzfristige, von vornherein als vorübergehend angesehene polizeiliche Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs, die zu einer Freiheitsbeschränkung führen, sollen nach wie vor davon nicht erfasst sein. Längerfristige, über mehrere Stunden dauernde Ingewahrsamnahmen außerhalb einer Einrichtung, die von der Intensität her einem Einschließen in einem abgeschlossenen Raum gleichkommen, können unter Umständen ebenfalls eine Freiheitsentziehung darstellen. Dies soll durch die Einfügung „insbesondere“ vor den Worten „in einer abgeschlossenen Einrichtung“ klargestellt werden.

Die Formulierung "gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit" ist missverständlich. Im Gegensatz zu den hoheitlichen Freiheitsentziehungen zur Gefahrenabwehr nach insb. den Polizeigesetzen, ist eine Freiheitsentziehung nach dem Infektionsschutzgesetz oder im Rahmen der Unterbringung nach § 312 ff. FamFG von der tragfähigen Freiwilligkeitserklärung abhängig (Grotkopp, a.a.O., Rn. 8f.). Jedoch ist zu beachten, dass eine polizeiliche Maßnahme regelmäßig unverhältnismäßig sein dürfte, wenn der Betroffene der Zielrichtung der Maßnahme freiwillig nachkommt, so dass es dann einer zwangsweisen Sicherung derselben durch Haft nicht bedürfte.

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