Der EuGH hat mit Urteil vom 26.07.2017 in den Rechtssachen C-490/16, A.S./Republika Slovenija, und C-646/16, Khadija Jafari und Zainab Jafari entschieden, dass Kroatien ist für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz von Personen zuständig ist, die seine Grenze während der Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 in großer Zahl überschritten haben. Diese Personen haben nämlich die Außengrenze von Kroatien im Sinne der Dublin-III-Verordnung illegal überschritten.
Im Jahr 2016 überschritten ein syrischer Staatsangehöriger und die Mitglieder zweier afghanischer Familien die Grenze zwischen Kroatien und Serbien, obwohl sie nicht im Besitz des erforderlichen Visums waren. Die kroatischen Behörden organisierten ihre Beförderung per Bus bis an die Grenze zwischen Kroatien und Slowenien, um ihnen zu helfen, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben und dort internationalen Schutz zu beantragen.
Der syrische Staatsangehörige stellte anschließend in Slowenien einen solchen Antrag, und die Mitglieder der afghanischen Familien taten dies in Österreich. Sowohl Slowenien als auch Österreich waren jedoch der Ansicht, dass die Antragsteller illegal nach Kroatien eingereist seien, so dass nach der Dublin-III-Verordnung die Behörden dieses Mitgliedstaats ihre Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen hätten.
Die Betroffenen fochten die Entscheidungen der slowenischen und der österreichischen Behörden gerichtlich an und machten geltend, ihre Einreise nach Kroatien könne nicht als illegal angesehen werden, so dass nach der Dublin-III-Verordnung die slowenischen und die österreichischen Behörden ihre Anträge zu prüfen hätten.
In diesem Kontext möchten der Vrhovno sodišče Republike Slovenije (Oberster Gerichtshof der Republik Slowenien) und der Verwaltungsgerichtshof Wien (Österreich) vom Gerichtshof wissen, ob die Einreise der Betroffenen als legal im Sinne der Dublin-III-Verordnung anzusehen ist. Der Verwaltungsgerichtshof möchte ferner wissen, ob die Haltung der kroatischen Behörden der Erteilung eines Visums durch diesen Mitgliedstaat gleichkommt.
In seinen heutigen Urteilen stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass ein Visum im Sinne der Dublin-III-Verordnung eine „Erlaubnis oder Entscheidung eines Mitgliedstaats“ ist, die „im Hinblick auf die Einreise zum Zweck der Durchreise oder die Einreise zum Zweck eines Aufenthalts“ im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder mehrerer Mitgliedstaaten verlangt wird. Folglich nimmt der Begriff des Visums auf einen förmlichen Rechtsakt einer nationalen Verwaltung Bezug und nicht auf eine bloße Duldung, wobei das Visum nicht mit der Gestattung der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verwechseln ist, da es gerade im Hinblick auf diese Gestattung verlangt wird.
Unter diesen Umständen kann die Gestattung der Einreise eines Staatsangehörigen eines Nicht-EU-Landes in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nicht als Visum eingestuft werden, auch wenn sie auf außergewöhnliche, durch einen Massenzustrom von Flüchtlingen in die EU gekennzeichnete Umstände zurückzuführen ist.
Überdies ist das Überschreiten einer Grenze ohne Einhaltung der Voraussetzungen der im betreffenden Mitgliedstaat geltenden Regelung zwangsläufig als „illegal“ im Sinne der Dublin-III-Verordnung einzustufen.
Zu der den Mitgliedstaaten nach dem Schengener Grenzkodex zustehenden Befugnis, Drittstaatsangehörigen, die die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen zu gestatten, stellt der Gerichtshof fest, dass eine solche Gestattung nur für das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats gilt und nicht für das Hoheitsgebiet der übrigen Mitgliedstaaten.
Würde die Einreise eines Drittstaatsangehörigen, die ein Mitgliedstaat unter Abweichung von den für ihn grundsätzlich geltenden Einreisevoraussetzungen aus humanitären Gründen gestattet, nicht als illegales Überschreiten der Grenze angesehen, würde dies zudem bedeuten, dass dieser Mitgliedstaat nicht für die Prüfung eines von dem Drittstaatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig wäre. Ein solches Ergebnis wäre aber mit der Dublin-III-Verordnung unvereinbar, die dem Mitgliedstaat, der die Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das Unionsgebiet zu verantworten hat, die Zuständigkeit für die Prüfung eines von ihm gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuweist. Ein Mitgliedstaat, der beschlossen hat, einem Drittstaatsangehörigen, der kein Visum besitzt und nicht vom Visumzwang befreit ist, aus humanitären Gründen die Einreise in sein Hoheitsgebiet zu gestatten, kann daher nicht seiner Zuständigkeit enthoben werden.
Unter diesen Umständen entscheidet der Gerichtshof, dass ein „illegales Überschreiten einer Grenze“ auch dann vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat Drittstaatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen und unter Abweichung von den für sie grundsätzlich geltenden Einreisevoraussetzungen gestattet.
Ferner stellt der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die durch die Dublin-III-Verordnung geschaffenen Mechanismen, auf die Richtlinie 2001/553 und auf Art. 78 Abs. 3 AEUV fest, dass nicht ausschlaggebend ist, dass das Überschreiten der Grenze in einer Situation erfolgt, die durch die Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger gekennzeichnet ist.
Der Gerichtshof hebt ebenfalls hervor, dass die Aufnahme dieser Drittstaatsangehörigen dadurch erleichtert werden kann, dass andere Mitgliedstaaten, einseitig oder in abgestimmter Weise im Geist der Solidarität, von der „Eintrittsklausel“ Gebrauch machen, die es ihnen gestattet, bei ihnen gestellte Anträge auf internationalen Schutz auch dann zu prüfen, wenn sie nach den in der Dublin-III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sind.
Schließlich weist er darauf hin, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden darf, wenn infolge der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger die Überstellung für sie mit der tatsächlichen Gefahr verbunden ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.
Quelle: Presseerklärung des EuGH