EuGH prüft: Wann ist ein Herkunftsland wirklich „sicher“?

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Das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ steht erneut im Fokus europäischer Rechtsprechung. Anlass ist ein aktueller Fall vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), bei dem zwei Asylsuchende aus Bangladesch betroffen sind. Italien hatte ihr Herkunftsland per Gesetz als „sicher“ eingestuft – mit weitreichenden Folgen: Die Verfahren wurden beschleunigt, die Betroffenen in eine albanische Transitzone verbracht und ihre Anträge als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Der Begriff des sicheren Herkunftsstaats, dessen Grundsatz und Umsetzung in den Art. 36 und 37 sowie in Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU niedergelegt sind, ermöglicht es den Mitgliedstaaten, eine besondere Regelung für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz einzuführen, nach der sie das Verfahren beschleunigen und an der Grenze oder in Transitzonen durchführen können, wenn Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt. Es wird davon ausgegangen, dass diese Länder über einen ausreichenden Schutz vor der Gefahr von Verfolgung oder schwerwiegenden Verletzungen ihrer Grundrechte verfügen.

Doch ist Bangladesch tatsächlich sicher – für alle?

Generalanwalt Jean Richard de la Tour nimmt in seinem Schlussantrag kein Blatt vor den Mund. Zwar sei es rechtlich zulässig, dass ein Mitgliedstaat wie Italien ein Drittland per Gesetz zum sicheren Herkunftsstaat erkläre. Allerdings, so de la Tour, müsse die Rechtsstaatlichkeit im Herkunftsland gesichert und die Informationsgrundlage der Einstufung offengelegt oder gerichtlich überprüfbar sein. „Ohne Einsicht in die zugrundeliegenden Quellen bleibt die Einstufung letztlich eine Blackbox“, mahnt der Generalanwalt. Das untergrabe das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz.

Der Generalanwalt führt aus, dass es keine Bestimmung der Richtlinie 2013/32 gebe, die die Behörde(n) der Mitgliedstaaten festlegt, die für die Benennung sicherer Herkunftsstaaten auf nationaler Ebene zuständig sein sollten, unabhängig davon, ob es eine nationale Liste gibt oder welches Instrument zu diesem Zweck einschlägig ist. Art. 37 Abs. 1 dieser Richtlinie beschränkt sich auf die Feststellung, dass "die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften beibehalten oder erlassen [können], die es ihnen ermöglichen, im Einklang mit Anhang I auf nationaler Ebene sichere Herkunftsstaaten für die Zwecke der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zu bestimmen." Der Ausdruck "legislative provisions" ("legislation" in der englischen Fassung oder "normativa" in der italienischen Fassung) ist im weitesten Sinne zu verstehen, d. h. er umfasst Rechtsakte legislativer, verordnungs- oder verwaltungsrechtlicher Art.

Ausnahmen für gefährdete Gruppen

Ein zweiter wichtiger Aspekt betrifft die Möglichkeit, gefährdete Personengruppen – etwa LGBTQIA+, religiöse Minderheiten oder Frauen, die geschlechtsspezifische Gewalt erlitten – aus der Pauschaleinstufung auszunehmen. Dies sei laut de la Tour mit EU-Recht vereinbar, sofern der betreffende Staat generell demokratisch sei und der Bevölkerung einen langfristigen Schutz biete. Die betroffenen Gruppen müssten klar benannt und vom Schnellverfahren ausgenommen werden. Andernfalls drohe die Verkennung individueller Schutzbedarfe.

Richtungsweisend für die EU-Asylpolitik

Der Fall könnte wegweisend für die Anwendung des Herkunftsstaaten-Konzepts in der gesamten EU sein. Mit dem Inkrafttreten der neuen EU-Asylverordnung 2024/1348 im Juni 2026 werden solche differenzierten Regelungen ausdrücklich erlaubt – also auch nationale Listen mit Ausnahmen für besonders gefährdete Gruppen. Bis dahin bleibt offen, wie die Mitgliedstaaten mit der Herausforderung umgehen, Effizienz im Asylsystem mit individuellem Schutz zu vereinen. Der EuGH wird sein Urteil in den kommenden Monaten verkünden. Für die Betroffenen aus Bangladesch – und viele andere – könnte es entscheidend sein.

Der Generalanwalt kommt zu folgendem Ergebnis

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Tribunale ordinario di Roma (ordentliches Gericht Rom, Italien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1. Die Artikel 36 und 37 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes - ist dahin auszulegen, dass sie einer Praxis nicht entgegenstehen, mit der ein Mitgliedstaat durch einen Gesetzgebungsakt einen Drittstaat zum sicheren Herkunftsstaat erklärt, sofern eine solche Praxis den Vorrang des Unionsrechts gewährleistet und die volle Wirksamkeit dieser Richtlinie im Einklang mit den darin festgelegten Verpflichtungen und den mit ihr verfolgten Zielen gewährleistet.

2. Die Art. 36 und 37 sowie Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass sie einer Praxis nicht entgegensteht, durch die ein Mitgliedstaat durch einen Gesetzgebungsakt einen Drittstaat als sicheren Herkunftsstaat bestimmt, sofern das nationale Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung über die Ablehnung eines von einem Antragsteller aus einem solchen Staat gestellten Antrags auf internationalen Schutz befasst ist, auf der Grundlage des in Art. 46 Abs. 3 vorgeschriebenen Erfordernisses einer umfassenden ex-nunc-Prüfung der Informationsquellen, auf deren Grundlage der nationale Gesetzgeber auf die Sicherheit des betreffenden Landes geschlossen hat.

In Ermangelung einer Offenlegung dieser Informationsquellen kann das zuständige Gericht die Rechtmäßigkeit einer solchen Benennung im Hinblick auf die in Anhang I dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen auf der Grundlage von Informationsquellen überprüfen, die es selbst aus den in Art. 37 Abs. 3 dieser Richtlinie genannten Informationsquellen eingeholt hat.

3. Art. 36 und Art. 37 Abs. 1 sowie Anhang I der Richtlinie 2013/32 sind dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, einen Drittstaat für die Zwecke der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz als sicheren Herkunftsstaat zu bezeichnen und gleichzeitig eine begrenzte Gruppe von Personen zu bestimmen, die in diesem Land wahrscheinlich der Gefahr der Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens ausgesetzt sind, sofern zum einen die rechtliche und politische Lage in diesem Land ein demokratisches System kennzeichnet, in dem die Bevölkerung im Allgemeinen in den Genuss der auf langfristigen Schutz vor einer solchen Gefahr und zum anderen, dass dieser Mitgliedstaat diese Personengruppen daher ausdrücklich von der Anwendung des Konzepts des sicheren Herkunftsstaats und der damit verbundenen Sicherheitsvermutung ausschließt.