EuGH weist die Klagen Ungarns und der Slowakei gegen Verteilung von Asylsuchenden ab

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Der Gerichtshof der Europäischen Union wies am 6. September 2017 die Klagen der Slowakei und Ungarns (verbundenen Rechtssachen C-643/15 und C-647/15) gegen die vorläufige obligatorische Regelung zur Umsiedlung von Asylsuchenden ab. Diese Regelung habe tatsächlich und in verhältnismäßiger Weise dazu beigetragen, dass Griechenland und Italien die Folgen der Flüchtlingskrise von 2015 bewältigen konnten.

Als Reaktion auf die Flüchtlingskrise, die im Laufe des Sommers 2015 über Europa hereinbrach, erließ der Rat der Europäischen Union einen Beschluss, um Italien und Griechenland bei der Bewältigung des massiven Zustroms von Migranten zu unterstützen. Der Beschluss sieht vor, dass 120 000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, über einen Zeitraum von zwei Jahren aus diesen beiden Mitgliedstaaten in die anderen Mitgliedstaaten der Union umgesiedelt werden.

Der angefochtene Beschluss erging auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV, der bestimmt: „Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“

Die Slowakei und Ungarn, die wie die Tschechische Republik und Rumänien im Rat gegen die Annahme des Beschlusses gestimmt hatten, beantragten beim Gerichtshof, den Beschluss für nichtig zu erklären. Sie stützten sich dabei zum einen auf Gründe, mit denen dargetan werden sollte, dass der Erlass des Beschlusses mit verfahrensrechtlichen Fehlern bzw. mit der fehlerhaften Wahl einer ungeeigneten Rechtsgrundlage einhergegangen sei, und zum anderen darauf, dass der Erlass des Beschlusses keine geeignete Reaktion auf die Flüchtlingskrise sei und zu diesem Zweck auch nicht erforderlich sei.

Im Verfahren vor dem Gerichtshof trat Polen dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Slowakei und Ungarns bei, während Belgien, Deutschland, Griechenland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Schweden und die Kommission als Streithelfer zur Unterstützung des Rates beitraten.

Mit Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof die Klagen der Slowakei und Ungarns in vollem Umfang ab.
Zunächst weist der Gerichtshof das Argument zurück, wonach aufgrund dessen, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV die Anhörung des Europäischen Parlaments vorsehe, wenn eine auf diese Bestimmung gestützte Maßnahme erlassen werde, das Gesetzgebungsverfahren hätte angewandt werden müssen. Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass das Gesetzgebungsverfahren nur dann angewandt werden kann, wenn eine Bestimmung der Verträge ausdrücklich darauf verweist. Art. 78 Abs. 3 AEUV enthält aber keine ausdrückliche Verweisung auf das Gesetzgebungsverfahren, so dass der angefochtene Beschluss außerhalb eines Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden durfte und somit einen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter darstellt.

In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV es den Unionsorganen ermöglicht, sämtliche vorläufige Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um wirksam und rasch auf eine durch den plötzlichen Zustrom von Vertriebenen geprägte Notlage zu reagieren. Diese Maßnahmen dürfen auch von Gesetzgebungsakten abweichen, vorausgesetzt u. a., dass sie hinsichtlich ihres sachlichen und zeitlichen Geltungsbereichs begrenzt sind und weder bezwecken noch bewirken, dass solche Rechtsakte dauerhaft ersetzt oder geändert werden; diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

Da der Beschluss ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter ist, galten für seinen Erlass die Anforderungen hinsichtlich der Beteiligung der nationalen Parlamente und des Öffentlichkeitsgebots für die Beratungen und Abstimmungen des Rates nicht (weil diese Anforderungen nur für Gesetzgebungsakte bestehen).

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass der zeitliche Geltungsbereich des angefochtenen Beschlusses (vom 25. September 2015 bis zum 26. September 2017) genau begrenzt ist, so dass der vorläufige Charakter des Beschlusses nicht in Frage gestellt werden kann.

Des Weiteren entscheidet der Gerichtshof, dass die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25. und 26. Juni 2015, wonach die Mitgliedstaaten über die Verteilung der Personen, die „unter Berücksichtigung der besonderen Situationen der Mitgliedstaaten“ unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, „einvernehmlich“ entscheiden sollen, dem Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht entgegenstehen konnten. Diese Schlussfolgerungen bezogen sich nämlich auf ein anderes Umsiedlungsvorhaben, mit dem als Reaktion auf den in den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 festgestellten Zustrom von Migranten 40 000 Personen unter den Mitgliedstaaten verteilt werden sollten. Dieses Vorhaben war Gegenstand des Beschlusses 2015/15234 und nicht des vorliegend beanstandeten Beschlusses. Außerdem kann der Europäische Rat in keinem Fall die in den Verträgen vorgesehenen Abstimmungsregeln ändern.
Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass zwar wesentliche Änderungen am ursprünglichen Beschlussvorschlag der Kommission vorgenommen wurden – insbesondere zur Umsetzung des Antrags Ungarns, nicht in die Liste der durch die Umsiedlungsregelung begünstigten Mitgliedstaaten aufgenommen zu werden, und zur Einstufung dieses Landes als Umsiedlungsmitgliedstaat –, das Parlament über diese Änderungen aber vor der Annahme seiner Entschließung vom 17. September 2015 ordnungsgemäß unterrichtet wurde, was es ihm ermöglichte, die Änderungen in der Entschließung zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass die weiteren, nach diesem Zeitpunkt vorgenommenen Änderungen das Wesen des Kommissionsvorschlags nicht beeinträchtigt haben.
Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass der Rat nicht verpflichtet war, den angefochtenen Beschluss einstimmig anzunehmen, selbst wenn er in Anbetracht dessen, dass die vorgenannten Änderungen angenommen worden waren, vom ursprünglichen Vorschlag der Kommission abweichen musste. Die Kommission hatte den geänderten Vorschlag nämlich durch zwei ihrer Mitglieder, die vom Kollegium hierzu ermächtigt waren, gebilligt.

Außerdem ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die im angefochtenen Beschluss vorgesehene Umsiedlungsregelung keine Maßnahme darstellt, die offensichtlich ungeeignet wäre, zur Erreichung der Ziele dieses Beschlusses beizutragen, d. h., Griechenland und Italien bei der Bewältigung der Folgen der Flüchtlingskrise von 2015 zu unterstützen. Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass die Gültigkeit des Beschlusses nicht auf der Grundlage einer rückschauenden Beurteilung seines Wirkungsgrads in Frage gestellt werden kann. Wenn der Unionsgesetzgeber die künftigen Auswirkungen einer neuen Regelung zu beurteilen hat, kann seine Beurteilung nämlich nur in Frage gestellt werden, wenn sie sich im Licht der Informationen, über die er zum Zeitpunkt des Erlasses der Regelung verfügte, als offensichtlich fehlerhaft erweist. Dies ist hier aber nicht der Fall, da der Rat die Auswirkungen der Maßnahme in Bezug auf die in Rede stehende Notlage auf der Grundlage einer detaillierten Prüfung der seinerzeit verfügbaren statistischen Daten einer objektiven Analyse unterzogen hat.

In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof insbesondere darauf hin, dass sich die geringe Zahl der bisher aufgrund des angefochtenen Beschlusses vorgenommenen Umsiedlungen durch mehrere Faktoren erklären lässt, die der Rat zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses nicht vorhersehen konnte, darunter namentlich die mangelnde Kooperation bestimmter Mitgliedstaaten.

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Rat keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als er davon ausging, dass das mit dem angefochtenen Beschluss verfolgte Ziel nicht durch weniger restriktive Maßnahmen hätte erreicht werden können. Der Gerichtshof entscheidet daher, dass der Rat seinen weiten Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat, als er annahm, dass die im Beschluss 2015/1523 vorgesehene Regelung, die bereits die Umsiedlung von 40 000 Personen auf freiwilliger Basis bezweckte, nicht genügen würde, um den in den Monaten Juli und August 2015 erfolgten beispiellosen Zustrom von Migranten zu bewältigen.