Der EuGH hat mit Urteil vom 16. Juli 2020 entschieden, auf welchen Zeitpunkt zur Bestimmung der Minderjährigkeit eines Kindes im Rahmen des Familiennachzugs zu Flüchtlingen abzustellen ist. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, an dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt gestellt wird.
Ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes kann nicht allein deshalb für unzulässig erklärt werden, weil das Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.
Im Jahr 2012 beantragte B. M. M., der in Belgien als Flüchtling anerkannt ist, bei der belgischen Botschaft in Conakry (Guinea) die Genehmigung des Aufenthalts zur Familienzusammenführung für seine drei minderjährigen Kinder. Diese Anträge wurden abgelehnt. Im Jahr 2013 stellte
B. M. M. erneut vergleichbare Anträge bei der belgischen Botschaft in Dakar (Senegal). Im Jahr 2014 lehnten die belgischen Behörden die Anträge ab und begründeten dies damit, dass sie auf betrügerischen und irreführenden Angaben beruhten.
Der am 25. April 2014 mit Klagen gegen diese Entscheidungen befasste Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) erklärte die Klagen am 31. Januar 2018 wegen des Fehlens eines Rechtsschutzinteresses für unzulässig. Nach ständiger nationaler Rechtsprechung muss nämlich das Rechtsschutzinteresse zum Zeitpunkt der Klageerhebung vorhanden sein und während des gesamten Verfahrens fortbestehen. Im vorliegenden Fall waren die betroffenen Kinder selbst bei Berücksichtigung der in den Anträgen genannten Geburtsdaten am Tag der Verkündung der Entscheidung des Conseil du contentieux des étrangers bereits volljährig geworden und erfüllten somit nicht mehr die in den Bestimmungen zur Regelung der Familienzusammenführung für Minderjährige vorgesehenen Voraussetzungen.
Die drei Kinder legten Kassationsbeschwerde zum Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) ein. Sie sind der Auffassung, die vom Conseil du contentieux des étrangers herangezogene Auslegung verstoße gegen den Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts, da sie ihnen das durch die entsprechende Richtlinie garantierte Recht auf Familienzusammenführung verwehre, und verletzte das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Vor diesem Hintergrund hat der Conseil d’État beschlossen, den Gerichtshof zu befragen.
In seinem heutigen Urteil antwortet der Gerichtshof als Erstes, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein Kind minderjährig ist, der Zeitpunkt ist, an dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung gestellt wird, und nicht der Zeitpunkt, an dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats über den Antrag entschieden wird, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags gerichtet wurde.
Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie 2003/86 das Ziel verfolgt, die Familienzusammenführung zu begünstigen und ferner Drittstaatsangehörigen, insbesondere Kindern, Schutz zu gewähren. Darüber hinaus haben Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 im Licht des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Verbindung mit der Pflicht zur Berücksichtigung des Wohls des Kindes und unter Berücksichtigung des Umstands zu erfolgen, dass es für ein Kind notwendig ist, regelmäßige persönliche Beziehungen zu seinen beiden Elternteilen zu unterhalten, wie es in der Charta4 vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass es weder mit den Zielen der Richtlinie 2003/86 noch mit den Anforderungen der Charta vereinbar wäre, für die Beurteilung des Alters des Antragstellers auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem die zuständige Behörde über den Antrag auf Familienzusammenführung entscheidet. Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte wären dann nämlich nicht veranlasst, die Klagen Minderjähriger mit der erforderlichen Dringlichkeit vorrangig zu bearbeiten, um ihrer Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen, und könnten somit in einer die Rechte dieser Minderjährigen auf Familienzusammenführung gefährdenden Weise handeln.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Conseil du contentieux des étrangers im vorliegenden Fall erst am 31. Januar 2018, also drei Jahre und neun Monate nach Erhebung der Klagen, diese abgewiesen hat und dass solche Bearbeitungszeiten in Belgien nicht die Ausnahme darzustellen scheinen.
Für die Beurteilung des Alters des Antragstellers auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen, könnte mithin keine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller gewährleisten und zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung der Anträge auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen.
Als Zweites antwortet der Gerichtshof, dass ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes nicht allein deshalb für unzulässig erachtet werden kann, weil das Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.
Die nationalen Rechtsbehelfe, die es dem Zusammenführenden und seinen Familienangehörigen ermöglichen, gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung gerichtlich vorzugehen, müssen nämlich wirksam sein und einen wirklichen Rechtsschutz bieten. Zudem könnte die Zurückweisung eines Rechtsbehelfs als unzulässig nicht auf der Feststellung beruhen, dass für die Betroffenen kein Interesse mehr daran besteht, vom angerufenen Gericht eine Entscheidung zu erlangen. Ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf Familienzusammenführung abgelehnt wurde, könnte, auch nachdem er volljährig geworden ist, weiterhin ein Interesse an einer Entscheidung des Gerichts in der Sache haben, da in einigen Mitgliedstaaten eine solche gerichtliche Entscheidung erforderlich ist, damit der Antragsteller eine Schadensersatzklage gegen den betreffenden Mitgliedstaat erheben kann.
Quelle: Presseerklärung des EuGH