Unter den außergewöhnlichen Umständen der Flüchtlingskrise ist nach Ansicht von Generalanwältin Sharpston für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag zuerst gestellt wurde. Ein illegaler Grenzübertritt im Sinne der Dublin-III-Verordnung liege nicht vor, wenn Mitgliedstaaten an den Außengrenzen der Union, die mit einem Massenzustrom von Drittstaatsangehörigen konfrontiert seien, diesen Menschen gestatteten, auf dem Weg in andere Mitgliedstaaten in ihr Hoheitsgebiet einzureisen und es zu durchqueren.
Im Jahr 2015 machten sich über eine Million Menschen – Flüchtlinge, Vertriebene und andere Migranten – auf den Weg in die EU. Viele von ihnen begehrten internationalen Schutz. Es war die größte Massenbewegung von Personen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese ganz außergewöhnlichen Umstände bilden den Hintergrund der beiden vorliegenden Fälle.
Die Verfahren betreffen die Migrationsroute über den Westbalkan. Sie führte auf dem See und/oder Landweg aus Ländern des Nahen Ostens in die Türkei, von dort in westlicher Richtung nach Griechenland und dann auf den Westbalkan (EJR Mazedonien, Serbien, Kroatien, Ungarn und Slowenien).
Rechtssache C-490/16, A. S.
Herr A. S., ein syrischer Staatsangehöriger, reiste aus Syrien über die Westbalkanroute nach Slowenien. Als er an dem für den Übertritt über die Staatsgrenze zwischen Serbien und Kroatien vorgesehenen Ort ankam, wurde ihm die Einreise nach Kroatien gestattet, und die kroatischen Behörden organisierten seine Weiterbeförderung an die slowenische Staatsgrenze.
Im Februar 2016 stellte Herr A. S. bei den slowenischen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz. Nach der Dublin-III-Verordnung ist, wenn festgestellt wird, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Grenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig. Die slowenischen Behörden waren der Ansicht, Herr A. S. sei „illegal“ im Sinne der Verordnung nach Kroatien eingereist, und deshalb sei Kroatien für die Prüfung seines Antrags zuständig. Kroatien erklärte sich bereit, Herrn A. S. wiederaufzunehmen; dies wurde ihm von den slowenischen Behörden mitgeteilt.
Herr A. S. erhob gegen die Entscheidung der slowenischen Behörden Klage mit der Begründung, dass das Kriterium für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats falsch angewendet worden sei, weil das Verhalten der kroatischen Behörden (ihm die Überschreitung der Außengrenze zu gestatten) dahin ausgelegt werden müsse, dass er legal nach Kroatien eingereist sei. Der Vrhovno sodišče Republike Slovenije (Oberster Gerichtshof der Republik Slowenien) möchte vom Gerichtshof wissen, wie die Begriffe der illegalen oder unrechtmäßigen Einreise in diesem Kontext anzuwenden sind.
Rechtssache C-646/16, Jafari
Frau Khadija Jafari, Frau Zainab Jafari und ihre Kinder sind afghanische Staatsangehörige. Sie flohen im Jahr 2015 aus Afghanistan über die Westbalkanroute nach Österreich. Sie reisten zunächst in Griechenland in das Unionsgebiet ein. Dort blieben sie drei Tage lang, bevor sie das Unionsgebiet wieder verließen und in Kroatien erneut einreisten. Als sie in Österreich angelangt waren, beantragten sie dort internationalen Schutz.
Die österreichischen Behörden waren der Ansicht, dass Kroatien der für die Prüfung dieser Anträge zuständige Mitgliedstaat sei. Die Familien seien in Griechenland illegal in das Unionsgebiet eingereist, weil sie als afghanische Staatsangehörige Visa benötigt hätten. Da in Griechenland systemische Mängel im Asylverfahren bestünden, sei jedoch nach der Dublin-III-Verordnung Kroatien (das sie auf dem Weg nach Österreich durchquert hätten) als der zuständige Mitgliedstaat anzusehen.
Die Schwestern Jafari traten dem entgegen. Sie machen geltend, ihnen sei die Einreise aus humanitären Gründen im Einklang mit dem Schengener Grenzkodex gestattet worden, so dass sie nicht „illegal“ eingereist seien. Daher sei Österreich der für die Prüfung ihrer Anträge zuständige Mitgliedstaat.
Der Verwaltungsgerichtshof Wien möchte vom Gerichtshof wissen, ob der Begriff des illegalen Grenzübertritts unabhängig oder in Verbindung mit anderen Unionsrechtsakten über Anforderungen an Drittstaatsangehörige, die die Außengrenze der Union überschreiten (wie den Schengener Grenzkodex), auszulegen ist.
Die dem Gerichtshof in den beiden Rechtssachen vorgelegten Fragen lauten:
- ob die Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit anderen Unionsrechtsakten auszulegen ist,
- ob die Mitwirkung und die Erleichterungen seitens der EU-Transitstaaten als Visa im Sinne dieser Verordnung anzusehen sind,
- wie die Formulierung „die [G]renze illegal überschritten hat“ zu verstehen ist,
- ob Drittstaatsangehörige, denen während der humanitären Krise die Einreise in den Schengen-Raum gestattet wurde, unter die Ausnahme von den normalen Regeln im Schengener Grenzkodex fallen und
- was eine „visafreie Einreise“ im Sinne der Dublin-III-Verordnung ist.
In ihren heutigen Schlussanträgen legt Generalanwältin Sharpston die außergewöhnlichen Umstände dar, in deren Rahmen der Gerichtshof mit diesen Rechtssachen befasst wurde, und stellt fest, dass der Gerichtshof ersucht wird, eine der noch nie dagewesenen, durch die Flüchtlingskrise entstandenen Sachlage angepasste rechtliche Lösung zu liefern.
Die Generalanwältin ist erstens der Ansicht, dass die Dublin-III-Verordnung allein anhand ihres Wortlauts, ihres Kontexts und ihrer Zwecke auszulegen sei und nicht in Verbindung mit anderen Unionsrechtsakten, insbesondere dem Schengener Grenzkodex und der Rückführungsrichtlinie. Die Dublin-III-Verordnung sei integraler Bestandteil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und habe damit einen anderen Zweck als Rechtsakte wie der Schengener Grenzkodex und die Rückführungsrichtlinie. Außerdem hätten die drei Rechtsakte nicht die gleiche Rechtsgrundlage, was zeige, dass ihr Kontext und ihre Ziele nicht völlig übereinstimmten.
Zweitens stellt die Generalanwältin fest, dass unter den ganz außergewöhnlichen Umständen eines Massenzustroms von Drittstaatsangehörigen die Tatsache, dass einige Mitgliedstaaten diesen Menschen gestattet hätten, die Außengrenze der Union zu überschreiten und anschließend in andere Mitgliedstaaten durchzureisen, um einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, der Erteilung eines „Visums“ nicht gleichzustellen sei. Die Regeln für die Ausstellung von Visa seien mit der Einhaltung einer Reihe von Formalien verbunden, von denen in den vorliegenden Fällen keine erfüllt gewesen sei.
Drittens kommt die Generalanwältin zu dem Schluss, dass kein illegaler Grenzübertritt im Sinne der Dublin-III-Verordnung vorliege, wenn Mitgliedstaaten infolge eines Massenzustroms von Drittstaatsangehörigen, die um internationalen Schutz in der Union nachsuchten, den Drittstaatsangehörigen gestatteten, die Außengrenze der Union zu überschreiten und anschließend in andere Mitgliedstaaten durchzureisen, um in einem bestimmten Mitgliedstaat internationalen Schutz zu beantragen.
Art. 13 Abs. 1 der Verordnung, wonach der Mitgliedstaat, dessen Grenze ein Drittstaatsangehöriger illegal überschritten habe, für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei, solle die Mitgliedstaaten zu Wachsamkeit bei der Gewährleistung der Integrität der Außengrenze der Union anhalten. Die Verordnung ziele jedoch nicht darauf ab, eine nachhaltige Verteilung der Zuständigkeit für Personen, die internationalen Schutz beantragten, innerhalb der Union als Reaktion auf einen außergewöhnlichen Zustrom von Menschen zu gewährleisten, wie er den Hintergrund der Vorabentscheidungsersuchen bilde.
Unter solchen Umständen könne die Einreise von Herrn A. S. und der Familien Jafari in das Unionsgebiet zwar nicht als „legal“ bezeichnet werden, doch könne sie auch nicht als „illegal“ im Sinne der Verordnung eingestuft werden. Dies gelte vor allem, weil die Transitmitgliedstaaten der Union die massenhaften Grenzübertritte nicht nur toleriert, sondern sowohl die Einreise als auch die Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet aktiv erleichtert hätten. Die Verordnung sei schlicht nicht für solche außergewöhnlichen Umstände gedacht gewesen, und deshalb liege unter den Umständen der vorgelegten Rechtssachen kein illegaler Grenzübertritt vor.
Viertens vertritt die Generalanwältin die Auffassung, dass unter den außergewöhnlichen Umständen der vorliegenden Fälle ein Mitgliedstaat berechtigt gewesen wäre, Drittstaatsangehörigen gestützt auf die Ausnahme im Schengener Grenzkodex die Überschreitung seiner Außengrenze aus humanitären Gründen oder aufgrund internationaler Verpflichtungen zu gestatten. Dabei setze die Heranziehung der Ausnahme nicht voraus, dass der Mitgliedstaat eine Einzelfallprüfung vorgenommen habe.
Schließlich weist die Generalanwältin das Vorbringen zurück, dass unter den konkreten Umständen die Gestattung der Einreise Drittstaatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Union eine visafreie Einreise im Sinne der Dublin-III-Verordnung darstelle. Abgesehen von den ausdrücklichen Ausnahmen im Unionsrecht gebe es keine sonstigen Umstände, unter denen ein Drittstaatsangehöriger von der Visumpflicht befreit werden könne. Die Mitgliedstaaten könnten die allgemeine Pflicht bestimmter Drittstaatsangehöriger, bei der Einreise in die Union ein Visum zu besitzen, auch nicht einseitig aus zusätzlichen Gründen unangewendet lassen, insbesondere wenn der betreffende Mitgliedstaat keine Einzelfallprüfung vorgenommen habe.
In Anbetracht dessen prüft die Generalanwältin die Anwendung der Verordnung auf die beiden vorliegenden Fälle. Sie weist nochmals auf den noch nie dagewesenen Zustrom von Menschen in die Westbalkanländer hin sowie darauf, dass kein für diese Situation passendes Kriterium in die Verordnung aufgenommen worden sei. Wenn Grenzmitgliedstaaten wie Kroatien die Zuständigkeit für die Aufnahme und Betreuung außergewöhnlich hoher Zahlen von Asylbewerbern auferlegt würde, bestünde ein echtes Risiko, dass sie schlicht nicht imstande sein würden, die Situation zu bewältigen. Das wiederum könnte die Mitgliedstaaten in eine Lage bringen, in der sie nicht imstande wären, ihren unions- und völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.
Angesichts des Ziels der Verordnung, die Zuständigkeit für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zwischen den Mitgliedstaaten eindeutig zuzuweisen, und der Tatsache, dass in keiner der Rechtssachen der Mitgliedstaat, in dem die Anträge gestellt worden seien, die Zuständigkeit freiwillig übernommen habe, sollten diese Anträge – wie in Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung vorgesehen – von dem ersten Mitgliedstaat geprüft werden, in dem sie gestellt worden seien.
Die Generalanwältin kommt zu dem Ergebnis, dass Slowenien der für die Prüfung des Antrags von Herrn A. S. auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat sei und dass Österreich der für die Prüfung der Anträge der Familien Jafari zuständige Mitgliedstaat sei.
Quelle: Presseerklärung des EuGH