Sind Folgeanträge zur Erlangung des Flüchtlingsstatus bei Syrern mit subsidiärem Schutz sinnvoll?

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Mit seinem Urteil in EZ gegen Deutschland vom 19. November 2020 hat der Gerichtshof der Europäischen Union eine neue Prozesslawine in Gang gebracht. Es stellt sich die Frage, ob die neue Entscheidung in Fällen tatsächlich Raum für Folgeanträge eröffnet, in denen syrischen Asylsuchenden „nur“ subsidiärer Schutz zuerkannt wurde.

Der Gerichtshof hat in der Rechtssache EZ entschieden, dass die Flucht vor dem Wehrdienst in Syrien mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Grund zur Verfolgung durch die dortigen Behörden darstellt. Im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien spreche eine starke Vermutung dafür, dass die Weigerung, Militärdienst zu leisten, mit einem Grund in Zusammenhang stehe, der einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könne. In vielen Fällen sei diese Weigerung nämlich Ausdruck politischer oder religiöser Überzeugungen oder habe ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Mit seinen Aussagen zur Kausalitätsprüfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund schafft der Gerichthof der Europäischen Union für Fälle der Wehrdienstentziehung Raum für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Sofern ein Folgeantrag gestellt werden soll, müsste innerhalb von drei Monaten ab Kenntnis des Urteils der Antrag gestellt werden. Die 3-Monatsfrist wird auf jeden Fall gewahrt, wenn der Antrag bis zum 19. Februar 2021 gestellt wird.

Ist ein Folgeantrag sinnvoll? Dies setzt die Bejahung der Frage voraus, ob sich nach einem abgeschlossenen Asylverfahren die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz).

Eine EuGH-Entscheidung stellt grundsätzlich keine geänderte Rechtslage dar, denn eine solche verlangt eine Änderung im Bereich des materiellen Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt. Eine Konkretisierung der Rechtslage durch eine EuGH-Rechtsprechung führt demgegenüber eine Änderung der Rechtslage nicht herbei. Vielmehr bleibt die gerichtliche Entscheidungsfindung eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung.

Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wenn das erste Asylverfahren durch eine gerichtliche Entscheidung abgeschlossen wurde. Denn insoweit ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt:

„Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können.“(Zitat aus der Röszke-Entscheidung des EuGH).

Kann nun ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt werden, wie dies vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge praktiziert wird? An dieser Stelle kommt eine weitere Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 14. Mai 2020 ins Spiel, die die ungarische Transitzone Röszke betraf. Hier stellte der Gerichtshof klar:

„Folglich ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass er auf einen Folgeantrag (…) nicht anwendbar ist, wenn die (…) feststellt, dass die bestandskräftige Ablehnung des früheren Antrags unionsrechtswidrig ist. Dies gilt zwingend, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags wie hier aus einem Urteil des Gerichtshofs ergibt oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden ist.“

Mit dieser Entscheidung verlangt der Gerichthof eine materielle Prüfung der geltend gemachten Verfolgungsgründe im Rahmen eines Folgeantrags, sofern die erste Asylentscheidung unionsrechtswidrig ist und dieser Rechtsmangel aufgrund einer Entscheidung des Gerichtshofs feststellbar ist. Damit wäre die Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig nicht möglich, wenn die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unionsrechtswidrig war.

Begründet die Syrien-Entscheidung des Gerichtshofs vom 19. November 2020 eine derartige Unionsrechtswidrigkeit vorangegangener Asylerstentscheidungen, mit denen der Flüchtlingsschutz im Hinblick auf Wehrdienst- oder Kriegsdienstentziehung abgelehnt wurde? Die Antwort lautet: Nein. Denn anders als im Röszke-Urteil wurde das Asylbegehren im Asylerstverfahren umfassend geprüft. In dem Röszke-Fall führte eine unionsrechtswidrige Regelung des ungarischen Rechts dazu, dass es zu keiner Sachprüfung in dem Asylverfahren kam. Die Asylanträge wurden als unzulässig zurückgewiesen, ohne dass hierfür eine Grundlage im Unionsrecht bestand. Mit seiner Entscheidung will der Gerichthof daher nur dem Umstand Rechnung tragen, dass es zumindest im Folgeantragsverfahren zu einer erstmaligen Sachprüfung kommt.

Der Syrien-Entscheidung des Gerichtshofs vom 19. November 2020 kann hingegen für den jeweiligen Einzelfall keinesfalls entnommen werden, dass gerichtlich bestätige Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Asylerstverfahren im Ergebnis unionsrechtswidrig sind. Denn der Gerichtshof kam zu seiner Beurteilung der Gefährdungslage syrischer Asylsuchender, die den Wehrdienst verweigerten, aufgrund einer Rechtslage, die mehrere Jahre zurücklag. Zudem führt die Entscheidung EZ keinesfalls zu einem automatischen Anspruch auf Flüchtlingsschutz, da immmer den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist.

Steht die Unionsrechtswidrigkeit ablehnendere Asylerstentscheidungen damit – anders als im Röszke-Fall – nicht fest, so gibt es auch keinen Anspruch auf eine erneute Sachentscheidung im Folgeantragsverfahren. Die Asylanträge können daher, sofern außer der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. November 2020 nichts vorgetragen wird, wegen fehlender Änderung der Rechtslage als unzulässig abgelehnt werden.