Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-924/19 PPU und C-925/19 PPU FMS u. a./Országos Idegenrendeszeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság und Országos Idegenrendeszeti Főigazgatóság am 14. Mai 2020 entschieden, dass die Verwahrung von Asylbewerbern bzw. Drittstaatsangehörigen, die Gegenstand einer Rückkehrentscheidung sind, in der Transitzone Röszke an der serbisch- ungarischen Grenze als „Haft“ einzustufen ist. Ergibt die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer solchen Haft, dass die betreffenden Personen ohne gültigen Grund in Haft genommen wurden, muss das angerufene Gericht sie unverzüglich freilassen.
In dem am 14. Mai 2020 im Eilverfahren ergangenen Urteil Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C-924/19 PPU und C-925/19 PPU) hat sich die Große Kammer des Gerichtshof im Zusammenhang mit der ungarischen Regelung des Asylrechts und der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger mit einer ganzen Reihe von Fragen zur Auslegung der Richtlinien 2008/1151 (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie), 2013/322 (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) und 2013/33 3 (Aufnahmerichtlinie) befasst.
Es ging um afghanische (C-924/19 PPU) bzw. iranische (C-925/19 PPU) Staatsangehörige, die über Serbien nach Ungarn eingereist waren und an der serbisch-ungarischen Grenze in der Transitzone Röszke Asyl beantragten. Die Anträge wurden nach ungarischem Recht als unzulässig abgelehnt, und es wurden Entscheidungen über die Rückkehr nach Serbien erlassen. Serbien verweigerte die Rückübernahme jedoch mit der Begründung, dass die Voraussetzungen gemäß dem mit der Union geschlossenen Rückübernahmeabkommen4 nicht erfüllt seien. Daraufhin änderten die ungarischen Behörden in den ursprünglichen Rückkehrentscheidungen das Zielland, das sie durch das jeweilige Herkunftsland ersetzten. Die Begründetheit der gestellten Asylanträge wurde nicht geprüft. Die Asylbewerber legten gegen die geänderten Rückkehrentscheidungen ohne Erfolg Widerspruch ein. Obwohl ein solcher Rechtsbehelf nach ungarischem Recht nicht statthaft ist, erhoben die Asylbewerber bei einem ungarischen Gericht Klage. Sie beantragten, die Entscheidungen, mit denen ihre Widersprüche gegen die geänderten Rückkehrentscheidungen zurückgewiesen wurden, für nichtig zu erklären und der Asylbehörde aufzugeben, ein neues Asylverfahren durchzuführen. Ferner erhoben sie Untätigkeitsklagen in Bezug auf ihre Inhaftnahme und die Aufrechterhaltung ihrer Haft in der Transitzone Röszke. Sie waren zunächst verpflichtet worden, sich dort in dem Abschnitt für Asylbewerber aufzuhalten. Einige Monate später wurden sie dann verpflichtet, sich in dem Abschnitt für Drittstaatsangehörige, deren Asylantrag abgelehnt wurde, aufzuhalten. Dort befinden sie sich derzeit.
Als Erstes hat der Gerichtshof die Lage der Asylbewerber in der Transitzone Röszke nach den Normen für die Haft von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Verfahrens- und Aufnahmerichtlinie), und nach den Normen für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige (Rückführungsrichtlinie) geprüft. Insoweit hat der Gerichtshof zunächst entschieden, dass die Verwahrung der betreffenden Asylbewerber in der Transitzone Röszke als Haft einzustufen ist. Der Begriff der Haft hat in den genannten Richtlinien überall dieselbe Bedeutung. Gemeint ist damit eine Zwangsmaßnahme, mit der die Bewegungsfreiheit der betreffenden Person nicht lediglich eingeschränkt, sondern völlig aufgehoben wird und die betreffende Person vom Rest der Bevölkerung isoliert wird, indem sie dazu gezwungen wird, dauerhaft in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich zu bleiben. Die Bedingungen, wie sie in der Transitzone Röszke vorherrschen, sind einer Freiheitsentziehung gleichzusetzen, insbesondere, weil die betreffenden Personen die Transitzone aus eigenen Stücken rechtmäßig in keine Richtung verlassen können. Sie können die Transitzone insbesondere nicht in Richtung Serbien verlassen, weil dies von den serbischen Behörden als rechtswidrig angesehen würde und sie deshalb mit Sanktionen rechnen müssten und weil sie dadurch jeglicher Aussicht auf Anerkennung als Flüchtling in Ungarn verlieren könnten.
Sodann hat der Gerichtshof geprüft, ob die Inhaftnahme den Anforderungen des Unionsrechts genügt. Was die Voraussetzungen der Inhaftnahme angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass nach Art. 8 der Aufnahmerichtlinie bzw. Art. 15 der Rückführungsrichtlinie weder eine Person, die internationalen Schutz beantragt, noch ein Drittstaatsangehöriger, der Gegenstand einer Rückkehrentscheidung ist, allein deshalb in Haft genommen werden kann, weil er nicht in der Lage ist, für seinen Unterhalt zu sorgen. Außerdem stehen die Art. 8 und 9 der Aufnahmerichtlinie bzw. Art. 15 der Rückführungsrichtlinie dem entgegen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, bzw. ein Drittstaatsangehöriger, der Gegenstand einer Rückkehrentscheidung ist, in Haft genommen wird, ohne dass vorher eine entsprechende Anordnung getroffen worden ist, in der die Gründe für die Haft angegeben sind, und ohne dass die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme geprüft worden sind.
Der Gerichtshof hat sich ferner zu den Voraussetzungen der Aufrechterhaltung der Haft und insbesondere der Dauer der Haft geäußert. Für die Personen, die internationalen Schutz beantragen, hat er entschieden, dass Art. 9 der Aufnahmerichtlinie nicht verlangt, dass die Mitgliedstaaten eine Höchstdauer der Haft festlegen. Das nationale Recht muss jedoch gewährleisten, dass die Haft nur solange dauert, wie der Grund, der sie rechtfertigt, gegeben ist, und dass die Verwaltungsverfahren in Bezug auf diesen Grund mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. Für die Drittstaatsangehörigen, die Gegenstand einer Rückkehrentscheidung sind, hat der Gerichtshof entschieden, dass sich aus Art. 15 der Rückführungsrichtlinie ergibt, dass die Haft, selbst wenn sie verlängert wird, 18 Monate nicht überschreiten darf und nur so lange aufrechterhalten werden darf, wie die Abschiebungsvorkehrungen laufen und mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.
Bei der Haft von Personen, die internationalen Schutz beantragen, unter den besonderen Bedingungen einer Transitzone kommt ferner Art. 43 der Verfahrensrichtlinie zum Tragen. Danach können die Mitgliedstaaten Personen, die internationalen Schutz beantragen, zwingen, an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats zu bleiben, u. a. damit vor der Entscheidung über das Recht der Antragsteller auf Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats geprüft werden kann, ob der Antrag überhaupt zulässig ist. Eine Entscheidung muss jedoch innerhalb von vier Wochen ergehen. Sonst muss der Mitgliedstaat dem Antragsteller die Einreise in sein Hoheitsgebiet gestatten und den Antrag im normalen Verfahren bearbeiten. Auch wenn die Mitgliedstaaten in einem Verfahren gemäß Art. 43 der Verfahrensrichtlinie Personen, die an ihren Grenzen internationalen Schutz beantragen, in Haft nehmen dürfen, darf die Haft mithin in keinem Fall vier Wochen ab Antragstellung überschreiten.
Der Gerichtshof hat weiter entschieden, dass die Rechtmäßigkeit einer Haftmaßnahme wie der Haft einer Person in einer Transitzone nach Art. 9 der Aufnahmerichtlinie bzw. Art. 15 der Rückführungsrichtlinie einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein muss. In Ermangelung entsprechender nationaler Rechtsvorschriften hat sich das angerufene nationale Gericht wegen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz für zuständig zu erklären und in der Sache zu entscheiden. Gelangt das nationale Gericht nach seiner Überprüfung zu dem Schluss, dass die betreffende Maßnahme der Haft
unionsrechtswidrig ist, muss es befugt sein, die Entscheidung der Behörde, die die Haft angeordnet hat, durch seine zu ersetzen und die unverzügliche Freilassung der betreffenden Person und gegebenenfalls eine Haftalternative anzuordnen.
Die Person, die internationalen Schutz beantragt, muss nach dem Ende der von einem Gericht für rechtswidrig erklärten Haft die materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme in Anspruch nehmen können, die ihm während der Prüfung seines Antrags zustehen. Insbesondere folgt aus Art. 17 der Aufnahmerichtlinie, dass sie, wenn sie nicht über ausreichende Mittel verfügt, Anspruch auf Unterbringung als Sachleistung oder auf eine entsprechende Geldleistung hat. Hierzu schreibt Art. 26 der Aufnahmerichtlinie vor, dass eine solche Person bei einem Gericht einen Rechtsbehelf einlegen kann, um diesen Anspruch durchzusetzen, wobei das Gericht befugt ist, bis zum Erlass seiner endgültigen Entscheidung einstweilige Anordnungen zu erlassen. Ist nach nationalem Recht kein Gericht zuständig, hat sich das angerufene Gericht wegen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz für zuständig zu erklären und über den Rechtsbehelf zur Durchsetzung des Anspruchs auf Unterbringung in der Sache zu entscheiden.
Als Zweites hat sich der Gerichtshof zu der Frage geäußert, ob das nationale Gericht für die von den betreffenden Personen erhobene Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidungen, mit denen ihre Widersprüche gegen die Änderung des Rückführungslands zurückgewiesen wurden, zuständig ist. Der Gerichtshof hat insoweit festgestellt, dass eine Entscheidung, mit der das in der ursprünglichen Rückkehrentscheidung angegebene Zielland geändert wird, so wesentlich ist, dass sie als neue Rückkehrentscheidung anzusehen ist. Nach Art. 13 der Rückführungsrichtlinie müssen die Adressaten einer solchen Entscheidung daher über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung verfügen, der auch dem durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierten Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz genügen muss. Der Gerichtshof hat deshalb klargestellt, dass auch wenn die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass Rückkehrentscheidungen vor anderen Behörden als Justizbehörden angefochten werden, der Adressat einer von einer Verwaltungsbehörde erlassenen Rückkehrentscheidung diese in einem bestimmten Stadium des Verfahrens vor mindestens einem Gericht anfechten können muss. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass im vorliegenden Fall die betreffenden Personen die Entscheidung der Einwanderungsbehörde, mit der ihr Rückführungsland geändert wurde, nur mit einem Widerspruch bei der Asylbehörde anfechten konnten und dass keine nachfolgende gerichtliche Überprüfung garantiert war. Die Asylbehörde, die dem für die Polizei zuständigen Minister untersteht, gehört aber zur vollziehenden Gewalt. Sie erfüllt deshalb nicht die Voraussetzung der Unabhängigkeit, wie sie von einem Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta verlangt wird. Unter solchen Umständen hat sich das angerufene nationale Gericht wegen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz im Hinblick auf die Klage, mit der eine Rückkehrentscheidung, mit der das ursprüngliche Zielland geändert wird, angefochten wird, für zuständig zu erklären und innerstaatliche Rechtsvorschriften, die ihm dies verbieten, gegebenenfalls unangewendet zu lassen.
Als Drittes hat sich der Gerichtshof mit dem in der ungarischen Regelung vorgesehenen Unzulässigkeitsgrund befasst, aufgrund dessen die Asylanträge zurückgewiesen wurden. Danach kann ein Asylantrag zurückgewiesen werden, wenn der Antragsteller durch ein als „sicheres Transitland“ eingestuftes Land nach Ungarn eingereist ist, in dem er nicht verfolgt wird und in dem nicht die Gefahr besteht, dass ihm ein ernsthafter Schaden zugefügt wird, oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist. Unter Verweis auf seine jüngste Rechtsprechung5 hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein solcher Unzulässigkeitsgrund gegen Art. 33 der Verfahrensrichtlinie verstößt. Sodann ist er auf die Folgen eingegangen, die dies auf das Asylverfahren hat, wenn die auf diesen Unzulässigkeitsgrund gestützte Zurückweisung der Asylanträge der betreffenden Personen bereits durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung bestätigt worden ist. In einem solchen Fall ergibt sich aus der Verfahrensrichtlinie in Verbindung mit Art. 18 der Charta, der das Asylrecht garantiert, dass die Behörde, die die Asylanträge zurückgewiesen hat, nicht verpflichtet ist, diese von Amts wegen erneut zu prüfen. Es bleibt den
betreffenden Personen aber unbenommen, einen neuen Antrag zu stellen, der als „Folgeantrag“ im Sinne der Verfahrensrichtlinie einzustufen ist. Auch wenn Art. 33 der Verfahrensrichtlinie vorsieht, dass ein Folgeantrag, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse vorgebracht worden sind, als unzulässig betrachtet werden kann, ist die Existenz eines Urteils des Gerichtshofs, mit dem festgestellt wird, dass ein in einer nationalen Regelung vorgesehener Unzulässigkeitsgrund unionsrechtswidrig ist, als neue Erkenntnis anzusehen. Darüber hinaus hat der Gerichtshof allgemein entschieden, dass der Unzulässigkeitsgrund gemäß Art. 33 der Verfahrensrichtlinie nicht zum Tragen kommt, wenn die Asylbehörde feststellt, dass die bestandskräftige Zurückweisung des ersten Asylantrags unionsrechtswidrig erfolgt ist. Dies gilt zwingend, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der Zurückweisung des ersten Asylantrags wie hier aus einem Urteil des Gerichtshofs ergibt oder von einem nationalen Gericht inzident festgestellt worden ist.
Quelle: Presseerklärung Nr. 60/20