Kein Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums bei fiktivem Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis

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Der Gesetzentwurf zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU sieht vor, dass „Rechtsfolgen nach anderen Gesetzen“ nur dann eintreten sollen, wenn einem Unionsbürger ein Aufenthaltstitel tatsächlich erteilt worden ist und nicht bereits dann, wenn dieser Aufenthaltstitel erteilt werden könnte oder müsste. Diese Neuregelung ist zu begrüßen.

Die beabsichtigte Klarstellung, die im neuen § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU verankert werden soll, wird im Gesetzgebungsverfahren in Frage gestellt, weil sie gravierende Auswirkungen in der Praxis haben werde. Sie entziehe der Rechtsprechung der Sozialgerichte die Grundlage, nach der ein „fiktiver Anspruch“ auf eine Aufenthaltserlaubnis dazu führen soll, dass Sozialleistungen bewilligt werden. Das Bundessozialgericht hat bislang auf die bisherige Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU zurückgegriffen, in dem geregelt ist, dass das Aufenthaltsgesetz dann Anwendung findet, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als das FreizügG/EU, um den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auszuhebeln.

Ausgehend von dem Meistbegünstigungsgedanken des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU kommt das Bundessozialgericht – und ihm folgende weitere Instanzgerichte – zu dem Ergebnis, dass fiktive Ansprüche nach dem Aufenthaltsgesetz ausreichen würden, um einen anderen Aufenthaltsgrund als den der Arbeitsuche zu erfüllen, mit der Folge, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht zur Anwendung komme.

Mit geradezu wahnwitzigen Überlegungen wurden fiktive Aufenthaltsrechte konstruiert. So führt das Bundessozialgericht mit Urteil vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R) aus, dass allein die fortgeschrittene Schwangerschaft einer Unionsbürgerin, die unverheiratet mit einem Mann mit Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet zusammenlebt, ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen begründe:

„Die - hier im Rahmen der Ausschlussklausel des § 7 Abs 1 S 2 Nr. 2 SGB II - bei Unionsbürgern nur zu prüfenden Voraussetzungen eines anderen Aufenthaltsrechts sind aber wegen der bevorstehenden Geburt des Kindes gegeben. Insofern handelt es sich um ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen, das aus dem Zusammenleben der Partner mit einem gemeinsamen Kind oder dem Kind eines Partners folgt.“

Eine Aussage, die in jeder Hinsicht ausländerrechtlich fehlerhaft ist. Die Schwangerschaft begründet kein Aufenthaltsrecht, sondern allenfalls einen Duldungsgrund. Die anstehende Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich des ungeborenen Kindes einer deutschen, aber auch ausländischen Staatsangehörigen kann durchaus aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses begründen. Ein Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis ergibt sich hieraus aber keinesfalls. Insoweit wird vom Bundessozialgericht auch nicht etwa eine vollständige aufenthaltsrechtliche Prüfung vorgenommen. Weder die Frage der Sicherung des Lebensunterhalts noch die Frage der Zumutbarkeit der Durchführung eines Visumverfahrens werden fallbezogen geprüft. Letztlich bleiben nur schwammige Aussagen zum Schutz der familiären Lebensgemeinschaft übrig, um einen angeblichen „fiktiven“ Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis zu begründen. Es ist bezeichnend, dass sich in der Entscheidung keine einzige Regelung des Aufenthaltsrechts findet, die als Rechtsgrundlage des fiktiven Aufenthaltsrechts herangezogen werden könnte.

Die Rechtsprechung der Sozialgerichte lässt erkennen, dass eine Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen des Aufenthaltsrechtes unterbleibt und allgemeine Billigkeitserwägungen die Argumentation prägen, was zu willkürlichen Ergebnissen führt. Weder die Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG noch des Art. 8 Abs. 1 EMRK sind ausreichend, um Aufenthaltsrechte zu begründen. Häufig wird es in den Fällen nur zur Erteilung einer Duldung kommen, die aber Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eröffnet.

Es ist daher zu begrüßen, wenn der Gesetzgeber die Prüfung des Aufenthaltsrechts nach dem Aufenthaltsgesetz in die Hände der kompetenten Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte legt. Was spricht dagegen, dass der Ausländer bei der Ausländerbehörde einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stellt? Wenn die fiktiven Aufenthaltsrechte so klar im Raume stehen, wie die Sozialgerichte häufig behaupten, dann werden diese Rechte doch ohne weiteres auch von der Ausländerbehörde zuerkannt werden.

Die gesetzliche Regelung hat zudem einen wichtigen Vorteil: Mit ihr werden die Sozialbehörden maßgeblich entlastet: Oder sollen diese jetzt auch noch das Aufenthaltsrecht umfassend mitprüfen?

Es ist rechtstaatlich zudem nicht zu verantworten, wenn allgemeine Erwägungen zu den Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG sowie des Art. 8 Abs. 1 EMRK ausreichen sollen, um gesetzliche Leistungsausschlüsse zu umgehen.