Abschiebungsandrohung von Straftätern nach dem Rückführungsverbesserungsgesetz

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Der 3. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs hat mit Beschluss vom 18. März 2024 (Az.: 3 B 1784/23) entschieden, dass die Ausnahmeregelung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht auf Abschiebungsandrohungen, die vor dem 27. Februar 2024 wirksam geworden sind, anwendbar ist. Die Ausnahmeregelung betrifft die Frage, ob von einer Abschiebungsandrohung ausnahmsweise nicht abgesehen werden muss, obwohl der Rückführung des Ausländers dauerhaft familiäre Bindungen, Belange des Kindeswohls, gesundheitliche Gründe oder asylerhebliche Gefahren entgegenstehen.

Der 3. Senat führt in seiner Entscheidung aus:

Nach der Ausnahmeregelung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, die durch das Rückführungsverbesserungsgesetz in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen wurde, stehen dem Erlass der Abschiebungsandrohung Abschiebungsverbote und die in oben genannten Gründe nicht entgegen, wenn der Ausländer aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ausreisepflichtig ist oder gegen ihn ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

Der Gesetzgeber hat mit § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG von der Opt-out-Klausel des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG Gebrauch gemacht. Nach dieser Norm haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu beschließen, die Richtlinie auf Drittstaatsangehörige nicht anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

Zu den formalen Anforderungen der Umsetzung der Opt-out-Klausel führt die Europäische Kommission in ihrer Empfehlung vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist (ABl. L 339 vom 19. Dezember 2017, Seite 83) unter Nummer 2 aus:

„Beschließt ein Mitgliedstaat, von der Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen und die Richtlinie in ‚Grenzfällen‘ oder ‚Strafrechtsfällen‘ nicht anzuwenden, muss dies im Voraus in den nationalen Umsetzungsvorschriften eindeutig festgelegt werden, da der Beschluss andernfalls keine Rechtswirkung entfaltet. Es bestehen keine besonderen formellen Anforderungen an die Bekanntgabe eines solchen Beschlusses. Allerdings muss aus den nationalen Rechtsvorschriften - explizit oder implizit - klar hervorgehen, ob und in welchem Umfang ein Mitgliedstaat die Ausnahmeregelung anwendet.“

Sind an die Umsetzungsvorschriften keine besonderen formellen Anforderungen an die Bekanntgabe zu stellen, genügt auch eine eindeutige Erklärung in der Gesetzesbegründung, aus der sich ergibt, ob und in welchem Umfang die Ausnahmeregelung angewendet werden soll (so auch BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 54; Beschluss vom 6. Mai 2020 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 5; zweifelnd VG Karlsruhe, Urteil vom 27. Februar 2023 - 19 K 4230/21 -, juris Rn. 103; ablehnend Bauer, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, Vor § 53 Rn. 30). Eine entsprechende eindeutige Erklärung zum Opt-out findet sich in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung für das Rückführungsverbesserungsgesetz vom 24. November 2024 (BT-Drs. 20/9463) auf Seite 45 zu Nummer 12 Buchst. b des Gesetzentwurfs, mit dem § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG neu gefasst wurde:

„Mit der Änderung macht Deutschland von der in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie geregelten Möglichkeit umfassend Gebrauch, die Rückführungsrichtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“

Dass der Gesetzgeber mit dieser Erklärung umfassend von der Opt-out-Regelung nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG Gebrauch machen wollte, ergibt sich zudem aus der Begründung auf Seite 34 der vorgenannten Drucksache. Auch wenn man die Gesetzesbegründung allein für nicht ausreichend halten würde, weil diese selbst nicht Gegenstand des Gesetzesbeschlusses des Deutschen Bundestags ist und im Rahmen der Bekanntmachung des Gesetzes nicht mit veröffentlicht wird, so besteht vorliegend die Besonderheit, dass der Gesetzgeber das Gebrauchmachen von der Opt-out-Klausel zum Anlass genommen hat, die Regelung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in das Gesetz einzuführen, mithin eine gesetzliche Umsetzung der Ausnahmeregelung erfolgt ist.

Der 3. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs hat entschieden, dass die Ausnahmeregelung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auf Abschiebungsandrohungen, die vor dem Inkrafttreten der Neuregelung, d.h. vor dem 27. Februar 2024, wirksam geworden sind, nicht anwendbar ist.

Die Bestimmung des Inkrafttretens in Art. 11 Abs. 1 Rückführungsverbesserungsgesetz, wonach dieses Gesetz vorbehaltlich des Absatzes 2 am Tag nach der Verkündung in Kraft tritt, besagt für sich allein nichts darüber, ob die Norm aus materiellen Gründen auf bereits wirksam gewordene Abschiebungsandrohungen erstreckt werden kann. Vorliegend steht das Unionsrecht einer rückwirkenden Anwendung der Neufassung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat klargestellt, dass ein Mitgliedstaat, der erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Rückführungsrichtlinie von der Opt-out-Klausel Gebrauch macht, sich nicht rückwirkend auf diese Ausnahmeregelung berufen kann (EuGH, Urteil vom 19. September 2013, Filev und Osmani - C-297/12 - Rn. 53 ff.). Drittstaatsangehörigen, die im Zeitpunkt des Erlasses der Rückführungsentscheidung in den Genuss der Schutzwirkung des Art. 5 RL 2008/115/EG gekommen sind, verlieren diese Rechtsstellung nicht nachträglich, wenn der Mitgliedstaat von der Opt-out-Klausel Gebrauch macht.

Diese Auslegung entspricht auch dem Hinweis der Europäischen Kommission in ihrer Empfehlung vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“. Dort wird unter Nummer 2 ausgeführt, dass in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat seine Entscheidung, die Ausnahmeregelungen gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. a oder b RL 2008/115/EG anzuwenden, nicht im Voraus bekannt gemacht hat,

„diese Bestimmungen nicht später in einzelnen Fällen als Begründung für die Nichtanwendung der Rückführungsrichtlinie heranziehen kann“.