Ausweislich einer Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgericht hat der 1. Senat mit Urteil vom 18. Dezember 2019 (BVerwG 1 C 34.18) eine Reihe umstrittener Fragen zur Auslegung und Anwendung der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Bleiberechtsregelung für geduldete Ausländer, die sich in Deutschland nachhaltig integriert haben, geklärt.
Die Klägerin, eine chinesische Staatsangehörige, begehrt die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG. Sie reiste im Juli 2003 zusammen mit ihrem 1994 geborenen Sohn im Wege der Familienzusammenführung zu ihrem Ehemann in das Bundesgebiet ein und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug. Nach ihrer Scheidung im Jahr 2007 erhielt die Klägerin zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG für ein Jahr, deren weitere Verlängerung letztlich daran scheiterte, dass es ihr nach Ablauf ihres chinesischen Reisepasses im Juni 2011 nicht gelang, einen neuen, gültigen Pass vorzulegen. Während mehrerer Jahre hielt sie sich auf der Grundlage von Fiktionsbescheinigungen und später Duldungen in Deutschland auf. Ihren Antrag auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis lehnte die Beklagte ab. Seit Frühjahr 2017 verfügt die Klägerin erneut über einen gültigen Reisepass, wurde aber durch die Ausländerbehörde weiter wegen fehlender Reisedokumente geduldet. Die Vorinstanzen haben die Beklagte verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b AufenthG (erneut) zu entscheiden. Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgeführt, die Klägerin sei im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung eine geduldete Ausländerin i.S.v. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Sie habe sich auch seit acht Jahren im Bundesgebiet mit einer Aufenthaltserlaubnis oder zumindest der Sache nach geduldet aufgehalten. Hinsichtlich einer „Duldungslücke“ von wenigen Tagen habe die Beklagte analog § 85 AufenthG eine Ermessensentscheidung zu treffen, ob diese bei der Berechnung der anrechnungsfähigen Aufenthaltszeiten außer Betracht bleiben könne. Die weiteren Voraussetzungen seien gegeben. Ein Ausweisungsinteresse sei nicht ersichtlich.
Auf die Revision der Beklagten hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Die Klägerin war im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts eine „geduldete Ausländerin“ und erfüllte die für die Annahme einer nachhaltigen Integration regelmäßig erforderlichen Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Insbesondere hat sie sich im maßgeblichen Zeitpunkt seit acht Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten. Entgegen der Auffassung der Beklagten bedarf es hierzu keiner „Mindestduldungszeit„; vielmehr stehen die im Gesetz genannten Rechtsgrundlagen des Voraufenthalts gleichberechtigt nebeneinander. Zu berücksichtigen sind alle Voraufenthaltszeiten, in denen der Ausländer aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden konnte. Geringfügige Lücken in den (namentlich) geduldeten Zeiten können bereits im Rahmen der nach § 25b AufenthG vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller Integrationskriterien aufgewogen werden oder - bei wie hier lediglich wenigen Tagen - auch sonst unschädlich sein.
Bundesrecht verletzt indes die Annahme des Berufungsgerichts, ein Ausweisungsinteresse sei nicht ersichtlich. Sie beruht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage. Die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses) findet auch auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG Anwendung.
Angesichts einer aktenkundigen „Passverfügung“ hätte das Berufungsgericht prüfen müssen, ob die Klägerin dadurch wirksam begründete Mitwirkungspflichten verletzt hat (Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 8 b AufenthG) und welche Rechtsfolgen sich hieraus für den Einzelfall ergeben.
Quelle: Pressemitteilung des BVerwG Nr. 94/2019