Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat die Stadt Bochum zu Recht verpflichtet, den von ihr abgeschobenen tunesischen Staatsangehörigen Sami A. unverzüglich auf ihre Kosten in die Bundesrepublik Deutschland zurückzuholen. Das hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 15. August 2018 entschieden und die Beschwerde der Stadt Bochum zurückgewiesen.
Diese hatte geltend gemacht, eine Rückholverpflichtung sei nicht gegeben, da die Abschiebung rechtmäßig gewesen sei, eine aktuelle Foltergefahr nicht bestehe und einer Rückholung Hinderungsgründe entgegenstünden. Der Senat ist dem nicht gefolgt.
Grundlage der Entscheidung ist die Überlegung, dass die Abschiebung, obwohl diese offenkundig rechtmäßig eingeleitet wurde, nachträglich durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen gegenüber dem Bundesamt rechtswidrig wurde. Das Oberverwaltungsgericht lässt in seiner Presseerklärung erkennen, dass die Rechtswidrigkeit des Abschiebungsvorgangs auch nicht durch die Unmöglichkeit, die Abschiebung abzubrechen, in Frage gestellt werden könnte. Dies erscheint insoweit konsequent, als das durch die Bekanntgabe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts entstandene Eingreifen eines Abschiebungsverbots nicht davon berührt wird, dass die Abschiebung nicht mehr anzuhalten ist. Gleichwohl wird mit diesem Ansatz der Besonderheit des Falles nicht ausreichend Rechnung getragen: Der Abschiebevorgang wurde rechtmäßig eingeleitet!
In anderen Rechtsbereichen wird diesem Umstand Rechnung getragen. Schießt etwa ein Polizist in Notwehr, so wird dieses Handeln nicht dadurch rechtswidrig, weil er unmittelbar nach Abgabe des Schusses bemerkt, dass der Täter keine Waffe in Händen hält. Auch wenn der abgegebene Schuss den Täter nach der neuen Erkenntnis des Polizisten vom Fehlen einer Notwehrlage trifft, war die Abgabe des Schusses rechtmäßig. Grundlage dieser Ansicht ist die Verlegung des für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit maßgeblichen Zeitpunkts auf den Zeitpunkt des polizeilichen Handelns, hier die Abgabe des Schusses. Was soll eine Ausländerbehörde unternehmen, wenn sie in Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit ihres Handeln einen nicht zu stoppenden Abschiebungsvorgang einleitet?
Hätte das Oberverwaltungsgericht diese Ansicht auch vertreten, wenn der Flieger bereits gelandet gewesen wäre, aber die Übergabe an die tunesischen Behörden noch nicht erfolgt ist?Entscheidend ist daher der maßgebliche Zeitpunkt der Beurteilung des Abschiebevorgangs sowie die Frage, ob der Abschiebevorgang noch zu stoppen war.
Das Oberverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss ausgeführt:
Die Abschiebung sei offensichtlich rechtswidrig gewesen. Sie hätte nach Ergehen des asylrechtlichen Aussetzungsbeschlusses im Verfahren 7a L 1200/18.A nicht fortgesetzt werden dürfen. Dieser habe bewirkt, dass das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) widerrufene Abschiebungsverbot wegen drohender Folter vorläufig wieder zu beachten gewesen sei. Die Entscheidung sei dem Bundesamt um 8.14 Uhr und damit eine Stunde vor Abschluss der Abschiebung durch Übergabe des A. an die tunesischen Behörden bekannt gegeben worden. Die Stadt Bochum habe spätestens um 8.44 Uhr von ihr Kenntnis genommen. Es sei nicht dargetan, dass die Abschiebung nicht mehr hätte abgebrochen werden können; im Übrigen hätte dies nicht die Rechtswidrigkeit ihres weiteren Vollzugs berührt.
Für eine Prüfung der Frage, ob dem Antragsteller in Tunesien Folter oder unmenschliche Behandlung droht, sei hier kein Raum. Insoweit sei der Senat an die weiterhin wirksame Entscheidung des Bundesamtes aus dem Jahr 2010 gebunden. Die dort getroffene Feststellung gelte vorerst fort, nachdem das Verwaltungsgericht die Vollziehung des Widerrufsbescheides des Bundesamtes vom 20. Juni 2018 ausgesetzt habe. Über die Rechtmäßigkeit des Widerrufs sei abschließend in dem (beim Verwaltungsgericht anhängigen) Klageverfahren zu befinden.
Einer Rückholung des A. stünden dauerhafte Hinderungsgründe nicht entgegen. Ein an die evident rechtswidrige Abschiebung anknüpfendes Einreise- und Aufenthaltsverbot könne ihm nicht entgegengehalten werden. Jedenfalls bestehe die Möglichkeit der Erteilung einer Betretenserlaubnis. Seine gegenwärtige Passlosigkeit und eine mögliche Ausreisesperre stellten keine dauerhaften Hindernisse dar. Denn sie stünden im Zusammenhang mit den noch laufenden Ermittlungen der tunesischen Behörden gegen A., deren Ergebnis abzuwarten bleibe. Im Übrigen sei nicht dargetan, dass diplomatische Bemühungen um die Ermöglichung einer Ausreise von vornherein aussichtslos seien.
Anzumerken sei, dass die nunmehr eingetretene Situation vermieden worden wäre, wenn in dem asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren der Bitte des Verwaltungsgerichts um Mitteilung des Abschiebungstermins entsprochen worden wäre. Dies sei nicht geschehen. Stattdessen sei das Verwaltungsgericht über die Eilbedürftigkeit seiner Entscheidung im Unklaren gelassen worden, indem ihm zwar die Flugstornierung für den 12. Juli 2018, 22.15 Uhr, nicht aber die Flugbuchung für den Folgetag, 6.30 Uhr, mitgeteilt worden sei.
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts ist unanfechtbar
Aktenzeichen: 17 B 1029/18 (I. Instanz: VG Gelsenkirchen 8 L 1315/18)