Der EuGH hat mit Urteil vom 29.03.2017 in der Rechtssache Tekdemir (C-652/15) die Anforderungen an die Notwendigkeit, ein Visumverfahren bei im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen durchzuführen, mit Blick auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 näher konkretisiert. Der EuGH folgt der Stellungnahme der Kommission, die sich für eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgesprochen hatte. Die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist damit nicht mehr anwendbar.
Der Gerichtshof hat über folgenden Fall zu entscheiden:
Das Kind Tekdemir wurde am 16. Juni 2014 in Deutschland geboren und ist ein türkischer Staatsangehöriger. Die Mutter des Kindes Tekdemir, gleichfalls eine türkische Staatsangehörige, reiste am 1. November 2013 mit einem Schengen‑Touristenvisum nach Deutschland ein. Sie stellte am 12. November 2013 bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Gießen (Deutschland) einen Asylantrag. Dieses Verfahren war zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens noch nicht abgeschlossen. Die Mutter des Kindes Tekdemir besitzt keinen Aufenthaltstitel, aber als Asylbewerberin eine Aufenthaltsgestattung. Der Vater des Kindes Tekdemir, gleichfalls ein türkischer Staatsangehöriger, ist Arbeitnehmer.
Am 10. Juli 2014 beantragte das Kind Tekdemir, dessen Aufenthalt in Deutschland für sechs Monate nach der Geburt rechtmäßig war, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von § 33 AufenthG. Mit Bescheid vom 27. Juli 2015 lehnte die Ausländerbehörde diesen Antrag ab, da es nicht unzumutbar sei, vom Kind Tekdemir zu verlangen, nachträglich ein Visumverfahren durchzuführen, auch wenn dies zwangsläufig dazu führe, dass es und seine Mutter zumindest vorübergehend vom Vater bzw. Ehemann getrennt würden. Zudem könne dem Vater des Kindes Tekdemir zugemutet werden, die familiäre bzw. eheliche Lebensgemeinschaft mit seinem Sohn und seiner Ehefrau in der Türkei fortzuführen, da er weder als Asylberechtigter noch als Flüchtling anerkannt sei und wie sein Sohn und seine Ehefrau die türkische Staatsangehörigkeit besitze.
Im Kern ging es damit um die Frage, ob ein Visumverfahren verlangt werden kann, obwohl nach der früheren Rechtslage ein derartiges Verfahren nicht erforderlich war.
Der Gerichthof kommt zunächst zu dem Ergebnis, dass das Ziel, die Migrationsströme wirksam zu steuern, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer neuen Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 sein könne.
Der Gerichthof legt dann aber dar, dass sich aus den vorliegenden Akten keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es, um die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des im Bundesgebiet geborenen Kindes zu überwachen und dadurch die Verwirklichung des Ziels einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme zu gewährleisten, erforderlich wäre, dass das Kind in die Türkei reist, um von dort aus ein Visumverfahren einzuleiten, in dem die Voraussetzungen eines Aufenthaltstitels geprüft werden.
Er kommt dann zu einer für die Einhaltung des Visumverfahrens wichtigen Aussage:
„Insoweit wird nicht vorgetragen und erst recht nicht bewiesen, dass die zuständige Behörde n u r dadurch in die Lage versetzt würde, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers des Ausgangsverfahrens im Rahmen der Familienzusammenführung zu beurteilen, dass er das deutsche Hoheitsgebiet verlässt und nachträglich ein Visumverfahren einleitet.“
Im Kern bedeutet dies, dass ein Visumverfahren immer dann unverhältnismäßig ist, wenn die Ausländerbehörde die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Inland prüfen kann.
Damit ist ein Verweis auf das Visumverfahren allein aus ordnungsrechtlichen Gründen nicht zulässig!
Mainz, 30.03.2017