Der Gerichthof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 21. Oktober 2020 in der Rechtssache C‑720/19 auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Düsseldorf nach Art. 267 AEUV entschieden, dass ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der die in Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Rechte erworben hat, diese Rechte nicht verliert, wenn er die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erwirbt und seine bisherige Staatsangehörigkeit verliert.
Sachverhalt
Eine türkische Staatsangehörige erhielt 1970 das Recht zum Familiennachzug zu ihrem in Deutschland lebenden türkischen Ehemann, der Arbeitnehmer war. Sie lebte mit ihrem Ehemann in Deutschland rechtmäßig zusammen, bis dieser 1998 verstarb.
Am 2. Februar 2001 erwarb die türkische Staatsangehörige die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung. Im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens legte sie den zuständigen Behörden eine Entlassungsurkunde aus der türkischen Staatsangehörigkeit vor. Nachdem sie die türkische Staatsangehörigkeit am 20. Juli 2001 wieder angenommen hatte, verlor sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit, was durch einen Bescheid der Stadt Duisburg vom 8. November 2010 festgestellt wurde.
Am 3. Februar 2017 beantragte sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland nach § 4 Abs. 5 AufenthG. Zur Begründung dieses Antrags machte GR geltend, dass sie aufgrund des Zusammenlebens mit ihrem Ehemann in Deutschland Rechte aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben habe.
Mit Bescheid vom 29. August 2017 lehnte die Stadt Duisburg diesen Antrag ab, weil sie der Auffassung war, dass die türkische Staatsangehörige keine Rechte mehr aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 herleiten könne, da sie am 2. Februar 2001 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf stellte dem Gerichthof die Frage, ob der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit den Verlust von Rechten zur Folge hat, die sie gemäß Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hatte.
Der Gerichthof der Europäischen Union stellte fest, dass die Rechte, die Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat verleihe, vom Fortbestehen der Voraussetzungen für ihre Entstehung unabhängig seien.
Außerdem kenne das Recht nur zwei Erlöschensgründe: Entweder stellt die Anwesenheit des betreffenden Familienangehörigen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 dieses Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen.
Dies führt zu dem Ergebnis:
"26 Der Erwerb der Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats durch den betreffenden Familienangehörigen, selbst wenn er dem Betroffenen Rechte verleiht, die weiter gehen als die durch den Beschluss Nr. 1/80 gewährten, stellt (…) keinen Umstand dar, der zum Verlust von Rechten führen kann, die der Betroffene zuvor gemäß Art. 7 Abs. 1 dieses Beschlusses erworben hat."