Die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Darmstadt (Az.: 5 K 1511/19.DA) hat den Gerichtshof der Europäischen Union angerufen (Az.: C-905/19), um im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens klären zu lassen, ob sich aus dem Diskriminierungsverbot des Artikels 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien und der EG Aufenthaltsrechte ableiten lassen. Konkret geht es um die Frage, ob das mit dem Aufenthaltstitel gesetzlich verbundene Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit einer Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis nach Wegfall der ehelichen Lebensgemeinschaft entgegensteht.
Der Vorlage liegt folgender Sachverhalt zugrunde
Der Kläger, ein tunesischer Staatsangehöriger, heiratete in der Tunesischen Republik eine deutsche Staatsangehörige. Nach seiner Einreise erhielt er eine befristete Aufenthaltserlaubnis die bis zum Januar 2022 verlängert wurde. Der Kläger geht einer unselbständigen Beschäftigung nach. Nach Auflösung der familiären Lebensgemeinschaft verkürzte die Ausländerbehörde die Geltungsdauer der noch bis Januar 2022 gültigen Aufenthaltserlaubnis des Klägers nachträglich auf den Tag der Zustellung der Verfügung.
Begründung des Vorlagebeschlusses
Grundlage der Vorlage ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Gattoussi (EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 – C-97/05 –) zu Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens. Auch diese Entscheidung betrifft einen Sachverhalt, in dem die Ausländerbehörde wegen der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Ehefrau nachträglich die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis zeitlich verkürzt hat. Der Unterschied zu dem nunmehr vorgelegten Fall liegt darin begründet, dass Herr Gattoussi im Besitz einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung war, die neben seiner Aufenthaltserlaubnis in einem eigenen Verwaltungsverfahren erteilt worden war.
Der Gerichtshof hat in der genannten Entscheidung festgestellt, dass Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens unmittelbare Wirkung hat (EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 – C-97/05 – Gattoussi, Rn. 28). Weiterhin hat der Gerichtshof in der entscheidungstragenden Passage zur Tragweite von Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens ausgeführt:
„40 Insbesondere kann, wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache El‑Yassini entschieden hat, der Aufnahmemitgliedstaat dann, wenn er dem Wanderarbeitnehmer ursprünglich in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen hatte, die Situation dieses Arbeitnehmers nicht aus Gründen in Frage stellen, die nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates, wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dienen (Urteil El‑Yassini, Randnrn. 64, 65 und 67). (…)
42 In Anbetracht der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit gilt das in Randnummer 40 Gesagte erst recht, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Aufnahmemitgliedstaat die Aufenthaltserlaubnis nachträglich befristet.“
Mit dem Erst-Recht-Schluss in der Rechtssache Gattoussi (Randnummer 40) hat der Gerichtshof zu erkennen gegeben, dass es bei einer nachträglichen zeitlichen Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis, mit der zugleich die Berechtigung zur Ausübung einer Beschäftigung entzogen wird, nicht erforderlich ist, dass dem Wanderarbeitnehmer in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen worden sein müssen.
Die zitierte Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union ist aber, ebenso wie die Entscheidung in der Rechtssache El-Yassini (EuGH, Urteil vom 2. März 1999 – C-416/96 –), von der Trennung zwischen Aufenthaltstitel und Arbeitsgenehmigung gekennzeichnet. Ausgehend vom Zweck des Europa-Mittelmeer-Abkommens, eine Erleichterung für tunesische Staatsangehörige zu schaffen, die als Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten tätig sind, und ihre Rechte bei legaler Aufnahme einer Beschäftigung zu sichern, könnte daher Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine ausdrückliche Eröffnung des Zugangs zum Arbeitsmarkt durch eine eigenständige Genehmigung (Arbeitserlaubnis) sein.
Sollte das Diskriminierungsverbot eine derartige Arbeitserlaubnis voraussetzen, die neben der Aufenthaltserlaubnis besteht, dann stünde Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommens der zeitlichen Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Denn die an den Titel anknüpfende Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit beruht allein auf einer unmittelbaren gesetzlichen Gestattung nach § 27 Absatz 5 AufenthG: „Der Aufenthaltstitel nach diesem Abschnitt berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit." Seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes im Jahre 2005 ist die selbständige, von der Arbeitsverwaltung erteilte Arbeitserlaubnis bzw. Arbeitsberechtigung – die Grundlage der Entscheidung in der Rechtssache Gattoussi war – ersatzlos entfallen. Die Berechtigung zur Ausübung einer Beschäftigung ist an den Bestand des konkreten Titels gebunden und vermittelt kein von diesem losgelöstes und weitergehendes Recht. Sie ist untrennbar mit dem Bestand des Titels und mit dem konkreten Aufenthaltszweck verknüpft. Entfällt dieser und wird diesem Umstand durch eine in die Zukunft reichende Entscheidung der Ausländerbehörde in der Weise Rechnung getragen, dass auf der Grundlage des nationalen Rechts (hier § 7 Absatz 2 Satz 2 AufenthG) die zeitliche Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis verkürzt wird, so entfällt auch die rechtliche Grundlage einer Beschäftigung mit dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der behördlichen Entscheidung.
Das vorlegende Gericht kann der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aber nicht entnehmen, welche konkreten Anforderungen an die arbeitsgenehmigungsrechtliche Rechtsstellung zu stellen sind. Dass der Gerichthof mit seinen Entscheidungen in den Rechtssachen Gattoussi und El-Yassini an das Vorliegen von Arbeitsgenehmigungen angeknüpft hat, mag ausschließlich darin begründet liegen, dass derartige Arbeitsgenehmigungen in den konkreten Fällen vorlagen. Insoweit stellt sich die Frage, ob die Rechtsstellung aus dem Diskriminierungsverbot des Artikels 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien neben der Aufenthaltserlaubnis eine separate Genehmigung, eine Beschäftigung ausüben zu dürfen, voraussetzt.
Es hat daher am 27. November 2019 beschlossen:
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Europäischen Gerichtshof werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Kann aus dem Diskriminierungsverbot des Artikel 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien ein Verbot der Verkürzung der Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis wegen des nachträglichen Wegfalls der Erteilungsvoraussetzungen für diese Aufenthaltserlaubnis abgeleitet werden, wenn
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- der tunesische Staatsangehörige im Zeitpunkt der Bekanntgabe der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis einer Beschäftigung nachging,
- die Verkürzungsentscheidung nicht auf Gründen beruht, die dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates, wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dienen, und
- der tunesische Staatsangehörige keine von der Aufenthaltserlaubnis unabhängige Genehmigung zur Ausübung einer Beschäftigung (Arbeitserlaubnis) besaß, sondern kraft Gesetzes während der zeitlichen Geltung der Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung berechtigt war?
Setzt die Rechtsstellung eines Ausländers aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien neben der Aufenthaltserlaubnis die Erteilung einer behördlichen Genehmigung, eine Beschäftigung ausüben zu dürfen, voraus?
Auf welchen Zeitpunkt kommt es für die Beurteilung der aufenthalts- und arbeitsgenehmigungsrechtlichen Rechtsstellung an? Ist der Zeitpunkt des Erlasses der behördlichen Entscheidung, mit dem das Aufenthaltsrecht entzogen wird, maßgeblich oder der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung?