EuGH konkretisiert den Ausweisungsschutz für Unionsbürger

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Der Gerichtshof der EU hat am 17. April 2018 entschieden, dass der verstärkte Schutz vor Ausweisung u. a. an die Voraussetzung geknüpft ist, dass der Betroffene über ein Recht auf Daueraufenthalt verfügt. Die weitere Voraussetzung des „Aufenthalts in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat“ kann erfüllt sein, sofern eine umfassende Beurteilung der Situation des Unionsbürgers zu dem Schluss führt, dass die Integrationsbande, die ihn mit dem Aufnahmemitgliedstaat verbinden, trotz seiner Inhaftierung nicht abgerissen sind.

Nach der Richtlinie über das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit1 hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in einem anderen Mitgliedstaat als dem eigenen (Aufnahmemitgliedstaat) aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ verfügen.

Außerdem genießen Unionsbürger, die ihren Aufenthalt in „den letzten zehn Jahren“ im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben, einen noch verstärkten Schutz, da gegen sie eine Ausweisung nur verfügt werden darf, sofern dies aus „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ gerechtfertigt ist.

Rechtssache C-424/16 Vomero

Herr Franco Vomero, ein italienischer Staatsangehöriger, zog 1985 mit seiner Frau, einer britischen Staatsangehörigen, ins Vereinigte Königreich. Im Jahr 1998 trennte sich das Paar. Herr Vomero zog daraufhin aus der ehelichen Wohnung aus und bei Herrn M. ein.

Am 1. März 2001 tötete Herr Vomero Herrn M. Im Jahr 2002 wurde er wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Im Juli 2006 wurde er aus der Haft entlassen.

Mit Entscheidung vom 23. März 2007, die am 17. Mai 2007 bestätigt wurde, verfügte der britische Innenminister (Secretary of State for the Home Department) die Ausweisung von Herrn Vomero gemäß der Verordnung des Vereinigten Königreichs von 2006 über die Zuwanderung. Herr Vomero wurde im Hinblick auf seine Abschiebung bis Dezember 2007 inhaftiert.

Nach Ansicht des mit der Sache von Herrn Vomero befassten Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) hatte Herr Vomero vor seiner Ausweisung kein Recht auf Daueraufenthalt erworben. Er halte sich aber seit dem 3. März 1985 im Vereinigten Königreich auf, was die Frage aufwerfe, ob nicht davon auszugehen sei, dass er im Sinne der Richtlinie seinen Aufenthalt „in den letzten zehn Jahren“ in diesem Mitgliedstaat gehabt habe, so dass er gegebenenfalls in den Genuss des verstärkten Ausweisungsschutzes kommen könnte.

Der Supreme Court of the United Kingdom möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob ein Unionsbürger, um in den Genuss des verstärkten Ausweisungsschutzes gemäß der Richtlinie zu kommen, notwendigerweise ein Recht auf Daueraufenthalt erworben haben muss. Für den Fall, dass der Gerichtshof dies verneinen sollte, ersucht der Supreme Court den Gerichtshof, sich zur Auslegung des Begriffs der „letzten zehn Jahre“ zu äußern, insbesondere dazu, ob Zeiträume der Abwesenheit und der Inhaftierung bei der Berechnung dieser zehn Jahre als Aufenthaltszeiträume angesehen werden können.

Rechtssache C-316/16 B

B ist ein 1989 geborener griechischer Staatsangehöriger. Nach der Trennung seiner Eltern kam er im Jahr 1993 gemeinsam mit seiner Mutter nach Deutschland. Seine Mutter arbeitet dort seit ihrer Ankunft und besitzt neben der griechischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit.

Abgesehen von einigen kurzen Urlaubsreisen und einem kurzen Zeitraum von zwei Monaten, in dem er von seinem Vater nach Griechenland geholt wurde, hält sich B seit 1993 ununterbrochen in Deutschland auf.

Im Jahr 2013 überfiel B, der eine mit Gummischrot geladene Pistole mit sich führte, eine Spielhalle, um sich Geld zu verschaffen. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt.

Mit Bescheid vom 25. November 2014 stellte das Regierungspräsidium Karlsruhe den Verlust des Rechts von B auf Einreise und Aufenthalt in Deutschland fest.

B erhob Klage gegen diesen Bescheid. Er trägt vor, dass ihm, da er sich seit seinem dritten Lebensjahr in Deutschland aufhalte und keine Bindungen zu Griechenland habe, der in der Richtlinie vorgesehene verstärkte Schutz vor Ausweisung zugutekomme. Außerdem begründe die von ihm begangene Straftat keine „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ im Sinne der Richtlinie.

Der mit der Sache befasste Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) ist der Auffassung, dass die von B begangene Handlung keinen zwingenden Grund der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Richtlinie bedeuten könne. Insoweit könne B also der verstärkte Schutz vor Ausweisung zugutekommen. Allerdings stelle sich die Frage, ob ihm dieser Schutz gewährt werden könne, da er sich seit dem 12. April 2013 in Haft befinde. Vor diesem Hintergrund möchte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom Gerichtshof wissen, ob die dauerhafte Niederlassung eines Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat und das Fehlen jeglicher Verbindung zum Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ausreichende Kriterien sind, um festzustellen, dass dem Betroffenen der verstärkte Schutz nach der Richtlinie zukommen kann.

In seinem Urteil von heute weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Richtlinie anknüpfend an den Grad der Integration des betroffenen Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat eine stufenweise Verstärkung des Ausweisungsschutzes vorsehe. So könnten, während ein Unionsbürger mit dem Recht auf Daueraufenthalt aus „schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ ausgewiesen werden könne, Unionsbürger, die einen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vorweisen könnten, ihrerseits nur aus „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ ausgewiesen werden. Der Gerichtshof gelangt deshalb zu dem Ergebnis, dass ein Unionsbürger in den Genuss dieses verstärkten Schutzniveaus in Anknüpfung an einen zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nur kommt, sofern er im Vorfeld die Voraussetzung für die Gewährung des niedrigeren Schutzniveaus erfüllt, also über ein Recht auf Daueraufenthalt im Anschluss an einen rechtmäßigen ununterbrochenen Aufenthalt von fünf Jahren im Aufnahmemitgliedstaat verfügt.

Der Gerichtshof sieht diese Auslegung auch darin bestätigt, dass die Richtlinie hinsichtlich des Rechts auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vorgesehen hat. Danach ist das Recht auf Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat für eine Dauer von mehr als drei Monaten an mehrere Voraussetzungen geknüpft, u. a. daran, dass der Unionsbürger wirtschaftlich so gestellt sein muss, dass er die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nimmt. Hat er sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten, hat er das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten, und unterliegt somit nicht mehr diesen Voraussetzungen. Daraus folgt, dass ein Unionsbürger, der kein Recht auf Daueraufenthalt erworben hat, aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden kann, wenn er die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nimmt.

Der Gerichtshof befindet deshalb, dass ein Unionsbürger, der in Ermangelung des Rechts auf Daueraufenthalt ausgewiesen werden kann, wenn er Leistungen unangemessen in Anspruch nimmt, nicht zugleich den in der Richtlinie vorgesehenen erheblich verstärkten Schutz genießen kann, der seine Ausweisung nur aus „zwingenden Gründen“ der öffentlichen Sicherheit zulassen würde.

Sodann wendet sich der Gerichtshof der Frage zu, wie für die Zwecke der Richtlinie der Zeitraum der „letzten zehn Jahre“ zu berechnen ist. Er stellt fest, dass der Aufenthalt von zehn Jahren zurückzurechnen ist und dass dieser Zeitraum grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein muss. Er stellt aber auch fest, dass sich aus der Richtlinie nichts zu der Frage ergibt, welche Umstände eine Unterbrechung der Aufenthaltsdauer von zehn Jahren bewirken können, die für den Erwerb des Rechts auf verstärkten Ausweisungsschutz erforderlich ist. Er befindet daher unter Verweis auf seine Rechtsprechung, dass systematisch eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen ist, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt.

Bei dieser umfassenden Beurteilung haben die nationalen Behörden alle in jedem Einzelfall relevanten Umstände zu berücksichtigen und müssen prüfen, ob die Zeiten der Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat bedeuten, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Staat verlagert hat.

Was Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe betrifft, befindet der Gerichtshof, dass für die Feststellung, ob sie zu einem Abreißen der zuvor geknüpften Integrationsbande zum Aufnahmemitgliedstaat geführt haben, eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen ist, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt. Deshalb lässt die Inhaftierung des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat nicht ohne Weiteres seine zu diesem Staat geknüpften Integrationsbande abreißen und bringt ihn daher auch nicht ohne Weiteres um den verstärkten Ausweisungsschutz.

Außerdem führt der Gerichtshof näher aus, dass bei der umfassenden Beurteilung der Situation des Betroffenen die Stärke der vor seiner Inhaftierung zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande sowie die Art der Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs zu berücksichtigen sind. Hierzu stellt er fest, dass die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert ist, nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Union liegt.

Schließlich befindet der Gerichtshof, dass die Frage, ob eine Person die Voraussetzung des „Aufenthalts in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat“ erfüllt, zu dem Zeitpunkt zu beurteilen ist, zu dem die ursprüngliche Ausweisungsverfügung ergeht.

Er weist jedoch darauf hin, dass, wenn sich der Vollzug einer einmal ergangenen Ausweisungsverfügung für eine gewisse Zeit verzögert, gegebenenfalls eine erneute Beurteilung notwendig werden kann, um zu überprüfen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht.