Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit seinem Urteil vom 16. Juli 2020 in der Rechtssache Addis die Verfahrensrechte von Asylbewerbern einem besonderen Schutz unterworfen. Es ist mit der praktischen Wirksamkeit der Verfahrensrichtlinie, unvereinbar, wenn das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht eine von der Asylbehörde unter Verletzung der Pflicht, dem Antragsteller Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Antrag auf internationalen Schutz zu geben, erlassene Entscheidung bestätigen könnte, ohne selbst den Antragsteller unter Wahrung der im Einzelfall anwendbaren grundlegenden Bedingungen und Garantien anzuhören.
Auch wenn die Asylverfahrensrichtlinie 2013/32 selbst nicht regelt, welche Folgen es haben kann, wenn eine Asylbehörde eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Art und Weise anhört, ist das ausdrückliche Erfordernis einer persönlichen Anhörung ersichtlich ein integraler und wesentlicher Bestandteil des gesamten Asylverfahrens. Der Anspruch auf eine persönliche Anhörung besteht nicht nur dann, wenn die Asylbehörde beabsichtigt, eine Entscheidung über die Begründetheit eines Antrags auf internationalen Schutz zu treffen, sondern auch dann, wenn sie, wie etwa im Dublin-Verfahren, eine Entscheidung nach Art. 33 der Richtlinie 2013/32 über die Zulässigkeit eines solchen Antrags zu erlassen gedenkt. Insoweit verpflichtet die Verfahrensrichtlinie die Asylbehörde ausdrücklich, den Antragsteller vor dem Erlass einer Entscheidung über die Begründetheit oder die Zulässigkeit eines Antrags persönlich anzuhören.
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Gerichtshof im Wesentlichen gefragt, ob das im Unterbleiben einer persönlichen Anhörung bestehende Versäumnis der Asylbehörde grundsätzlich durch das Gericht, das später eine sowohl den Sachverhalt als auch Rechtsfragen einbeziehende umfassende ex-nunc-Prüfung vornimmt, geheilt werden kann, wenn es die persönliche Anhörung selbst durchführt und sodann die Entscheidung der Asylbehörde bestätigt. Oder muss es gleichwohl die Entscheidung der Asylbehörde aufheben und die Sache zur Durchführung einer solchen Anhörung und zum Erlass einer – möglicherweise neuen – Entscheidung an sie zurückverweisen? Aufgrund der Entscheidung des Gerichthofs ist davon auszugehen, dass eine Heilung im gerichtlichen Verfahren nicht erfolgen kann.
Zunächst richtet sich die Verpflichtung zur Anhörung nicht an die Gerichte, sondern an die Asylbehörde. Aus der Definition des Begriffs „Asylbehörde“ in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2013/32 geht hervor, dass eine solche Anhörung von einer gerichtsähnlichen Behörde oder Verwaltungsstelle durchgeführt werden muss, die von einem Mitgliedstaat im Einklang mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie benannt wurde. In der Verfahrensrichtlinie selbst ist die Durchführung einer persönlichen Anhörung durch ein Gericht nicht geregelt. Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 25. Juli 2018 in der Rechtssache Alheto klargestellt, dass zwischen der in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2013/32 definierten „Asylbehörde“ und dem in ihrem Art. 46 erwähnten „Gericht“ unterschieden werden muss. So unterliegt das Verfahren vor einer Asylbehörde den Vorschriften des Kapitels III („Erstinstanzliche Verfahren“) der Richtlinie, während das Verfahren vor einem Gericht den in Art. 46 der Richtlinie enthaltenen Vorschriften ihres Kapitels V („Rechtsbehelfe“) entsprechen muss.
In dem vorgelegten Verfahren war unstreitig, dass demnach der Anspruch von Herrn Addis auf eine persönliche, von der Asylbehörde im Einklang mit der Richtlinie 2013/32 durchgeführte Anhörung verletzt wurde. Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen wurde Herr Addis zwar vom Bundesamt u. a. zu den Bedingungen, denen er in Italien ausgesetzt wäre, wenn er dorthin zurückgeführt würde, nicht persönlich angehört, doch wurde dieses Versäumnis nach Ansicht des vorlegenden Gerichts im nationalen Gerichtsverfahren, das im Einklang mit Kapitel V der Richtlinie 2013/32 durchgeführt wurde, vollständig geheilt oder ausgeglichen.
Der Gerichthof stellt in seiner Entscheidung zunächst die Bedeutung der persönlichen Anhörung dar.
„64 Allerdings geht das Recht des Antragstellers, sich nach den Art. 14 und 34 der Verfahrensrichtlinie in einer persönlichen Anhörung zur Anwendbarkeit eines solchen Unzulässigkeitsgrundes in seinem besonderen Fall zu äußern, mit spezifischen Garantien einher, mit denen die Wirksamkeit dieses Rechts gewährleistet werden soll.
65 So ergibt sich aus Art. 15 Abs. 2 und 3 der Verfahrensrichtlinie, dass die persönliche Anhörung unter Bedingungen zu erfolgen hat, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten und dem Antragsteller eine umfassende Darlegung der Gründe seines Antrags gestatten. Insbesondere in Bezug auf Letzteres haben die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie zu gewährleisten, dass die anhörende Person befähigt ist, die persönlichen und allgemeinen Umstände des Antrags einschließlich der kulturellen Herkunft, der Geschlechtszugehörigkeit, der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität oder der Schutzbedürftigkeit des Antragstellers zu berücksichtigen. Nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. b der Verfahrensrichtlinie haben die Mitgliedstaaten, soweit möglich, vorzusehen, dass die Anhörung des Antragstellers von einer Person gleichen Geschlechts durchgeführt wird, wenn der Antragsteller darum ersucht, es sei denn, das Ersuchen beruht auf Gründen, die nicht mit den Schwierigkeiten des Antragstellers in Verbindung stehen, die Gründe für seinen Antrag umfassend darzulegen. Art. 15 Abs. 3 Buchst. c der Verfahrensrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Wahl eines Dolmetschers, der eine angemessene Verständigung zwischen dem Antragsteller und der anhörenden Person zu gewährleisten vermag; dies dient der Umsetzung des in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen Rechts des Antragstellers, erforderlichenfalls einen Dolmetscher beizuziehen, damit er seinen Fall darlegen kann. Nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. e dieser Richtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Anhörungen von Minderjährigen kindgerecht durchgeführt werden.“
Der Gerichthof kommt dann zum Ergebnis, dass eine Heilung des Anhörungsmangels im gerichtlichen Verfahren weder durch die persönliche Anhörung noch die im Verfahren anzuwendende Amtsermittlung erfolgen kann. Denn aufgrund der nationalen Vorschriften für das gerichtliche Verfahren können bei einer Anhörung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht nicht alle von Art. 15 der Verfahrensrichtlinie für die persönliche Anhörung vorgeschriebenen Bedingungen garantiert werden:
„71 Unter Berücksichtigung der entsprechenden Fragen des vorlegenden Gerichts ist hinzuzufügen, dass die fehlende Anhörung weder durch die Möglichkeit des Antragstellers, in seinem Rechtsbehelf schriftlich die Umstände darzulegen, die die Gültigkeit der über seinen Schutzantrag erlassenen Unzulässigkeitsentscheidung in Frage stellen, noch durch die nach nationalem Recht bestehende Pflicht der Asylbehörde und des mit dem Rechtsbehelf befassten Gerichts, alle relevanten Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, geheilt werden kann. Darüber hinaus könnte zwar die Tatsache, dass eine Bestimmung zur Umsetzung der Unzulässigkeitsgründe nach Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie in nationales Recht der Asylbehörde bei der Entscheidung über die Zweckmäßigkeit der Anwendung des einen oder des anderen Grundes im Einzelfall einen Ermessensspielraum lässt, eine Zurückverweisung an die Asylbehörde erforderlich machen, doch kann umgekehrt das Fehlen eines solchen Ermessensspielraums nach deutschem Recht nicht rechtfertigen, dass dem Antragsteller die Wahrnehmung des Anhörungsrechts in der durch die Verfahrensrichtlinie ausgestalteten Form verwehrt wird. Wie aus den Rn. 56 bis 66 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist nämlich, wenn die Asylbehörde keine Anhörung in erster Instanz durchführt, die Gewährleistung der Wirksamkeit des Rechts auf Anhörung in der späteren Phase des Verfahrens nur möglich, wenn eine solche Anhörung vor dem mit einem Rechtsbehelf gegen die von der Asylbehörde erlassene Unzulässigkeitsentscheidung befassten Gericht und unter Einhaltung aller in der Verfahrensrichtlinie festgelegten Bedingungen durchgeführt wird.
72 Im vorliegenden Fall geht aus der Antwort des vorlegenden Gerichts auf ein Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hervor, dass das deutsche Recht im Fall einer Verletzung der Pflicht, dem Antragsteller Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung im erstinstanzlichen Verfahren vor der Asylbehörde zu geben, das Recht des Antragstellers auf eine persönliche Anhörung im Rechtsbehelfsverfahren nicht durchweg sicherstellt. Außerdem könne zwar durch unionsrechtskonforme Auslegung und Anwendung der nationalen Bestimmungen die Anhörung eines jeden Antragstellers sichergestellt werden, doch könnten aufgrund der nationalen Vorschriften für das gerichtliche Verfahren bei einer Anhörung vor dem mit dem Rechtsbehelf befassten Gericht nicht alle von Art. 15 der Verfahrensrichtlinie für die persönliche Anhörung vorgeschriebenen Bedingungen garantiert werden.“
Der Gerichtshof kommt zu folgender Entscheidung:
Die Art. 14 und 34 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Verletzung der Pflicht, der Person, die internationalen Schutz beantragt, vor dem Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben, nicht zur Aufhebung dieser Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Asylbehörde führt, es sei denn, diese Regelung ermöglicht es dem Antragsteller, im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens in einer die gemäß Art. 15 der Richtlinie geltenden grundlegenden Bedingungen und Garantien wahrenden Anhörung persönlich alle gegen die Entscheidung sprechenden Umstände vorzutragen, und trotz dieses Vorbringens keine andere Entscheidung ergehen kann.