Entscheidungen des Gerichtshofs der EU lassen Zweifel aufkommen, ob die deutsche Rechtslage, nach der eine Abschiebungsandrohung, die eine Rückkehrentscheidung nach der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) darstellt, ungeachtet möglicher inlandsbezogener Abschiebungsverbote ergehen kann, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die im deutschen Recht vorgenommene Trennung zwischen dem Erlass einer Abschiebungsandrohung und dem Verfahren auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG steht auf dem unionsrechtlichen Prüfstand, nachdem das Bundesverwaltungsgericht am 8. Juni 2022 (BVerwG 1 C 24.21) dem Gerichtshof der EU diese Problematik vorgelegt hat.
Aktuelle Entscheidungen des Gerichtshofs EU (vor allem die Urteile vom 14. Januar 2021 - C-441/19, TQ - und vom 11. März 2021 - C-112/20, M. A. -) lassen Zweifel an der Unionsrechtskonformität des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aufkommen. Nach diesen Entscheidungen erscheint es denkbar, dass Art. 5 Halbs. 1 der Rückführungsrichtlinie zwingend dazu führt, dass bereits im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsandrohung eine konkret-individuelle Berücksichtigung des Wohles des Kindes, familiärer Bindungen oder gesundheitlicher Beeinträchtigungen erfolgen muss. Die Verlagerung dieser Frage über § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in das Duldungsverfahren nach § 60a Abs. 2 AufenthG würde in diesem Fall mit Unionsrecht nicht in Einklang stehen.
Der Gerichtshof der EU hat in den vorgenannten Entscheidungen mehrfach betont, dass die familiären Bindungen und das Wohl des Kindes vor Erlass einer Rückkehrentscheidung, d.h. auch einer Abschiebungsandrohung, zu berücksichtigen sind. So bezweckt etwa Art. 5 der Rückführungsrichtlinie unter anderem die Wahrung der in Art. 24 Grundrechtecharta verankerten Grundrechte minderjähriger Drittstaatsangehöriger im Rahmen des durch die Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens (EuGH, Urteil vom 11. März 2021 - C-112/20 [ECLI:EU:C:2021:197], M. A. - Rn. 35). Das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen sind in sämtlichen Stadien des Verfahrens auf Rückführung des Drittauslängers gebührend zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 [ECLI:EU:C:2021:9], TQ - Rn. 54). Die zuständige nationale Behörde hat daher das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen auch dann gebührend zu berücksichtigen, wenn sie eine Abschiebungsandrohung zu erlassen beabsichtigt (EuGH, Urteile vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 [ECLI:EU:C:2014:2431], Khaled Boudjlida - Rn. 49 und vom 11. März 2021 - C-112/20, M. A. - Rn. 41). Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie verwehrt es einem Mitgliedstaat, eine Abschiebungsandrohung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Wohles des Kindes und der familiären Bindungen zu berücksichtigen, die der Drittstaatsangehörige geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 - C-82/16 [ECLI:EU:C:2018:308], K. A. u. a. - Rn. 104).
In der Praxis hat dies Rechtsprechung zur Folge, dass in allen Verfahren, in denen Abschiebungsandrohungen ergehen, Kindeswohlbelange, familiäre und gesundheitliche Gründe geltend gemacht werden müssen; dies gilt auch im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.