Der EuGH hat in der Rechtssache C-380/17 am 7. November 2018 in einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) entschieden, dass einem Flüchtling, der nach seiner unanfechtbaren Anerkennung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von drei Monaten (§ 29 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 AufenthG) einen Antrag auf Familienzusammenführung stellt, die Privilegierungen, insbesondere der Verzicht auf die Lebensunterhaltssicherung, vorenthalten werden darf. Allerdings verhielte es sich anders, wenn die verspätete Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist.
Der Gerichthof stellt weiterhin klar, dass durch die Versäumung der Antragsfrist von drei Monaten nur die Privilegierungen, die auf der Familienzusammenführungsrichtlinie beruhen, entfallen, nicht aber das Recht einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen. In dem normalen Verfahren auf Familienzusammenführung muss der Mitgliedstaat im Rahmen einer Einzelfallprüfung das Wohl minderjähriger Kinder, die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland gebührend berücksichtigen. Insoweit gelten die Anforderungen, die die Familienzusammenführungsrichtlinie für jeden Nachzug vorsieht:
„52Die Entscheidung eines Mitgliedstaats, durch die die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten Voraussetzungen verlangt wird, steht nämlich nicht dem entgegen, dass die Begründetheit der beantragten Familienzusammenführung in der Folge derart geprüft wird, dass gemäß Art. 5 Abs. 5 und Art. 17 der Richtlinie das Wohl minderjähriger Kinder, die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland gebührend berücksichtigt wird.
53In diesem Zusammenhang wird der betreffende Mitgliedstaat in der Lage sein, das Erfordernis einer individualisierten Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung zu beachten, das sich aus Art. 17 der Richtlinie 2003/86 ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, K und A, C-153/14, ECLI:EU:C:2015:453, Rn. 60) und insbesondere verlangt, dass die mit der Flüchtlingseigenschaft des Zusammenführenden verbundenen Besonderheiten berücksichtigt werden. So muss - laut dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie - der Lage von Flüchtlingen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie nicht damit rechnen können, in ihrem Herkunftsstaat ein normales Familienleben zu führen, sie womöglich während eines langen Zeitraums von ihrer Familie getrennt gewesen waren, bevor ihnen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, und die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für sie im Vergleich zu anderen Drittstaatsangehörigen eine größere Schwierigkeit darstellen kann.“
Weiterhin muss der Flüchtling, wenn er die Antragsfrist versäumt zwingend in vollem Umfang über die Folgen der Entscheidung der Fristversäumung und die Maßnahmen, die sie zu ergreifen haben, um ihr Recht auf Familienzusammenführung wirksam geltend zu machen, informiert werden. Ausländerbehörden müssen daher den Flüchtling belehren, dass er trotz des Verlustes der erleichterten Nachzugsvoraussetzungen einen Antrag auf Familiennachzug stellen kann.