Keine Verlängerung der Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren wegen der Covid-19-Pandemie

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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 22.09.2022 in den verbundenen Rechtssachen C-245/21 und C-248/21 entschieden, dass eine aufgrund der Covid-19-Pandemie erfolgte Aussetzung des Überstellungsverfahrens im Rahmen eines Dublin-Verfahrens zu keiner Unterbrechung der sechsmonatigen Überstellungsfrist führt. Sobald diese Frist abgelaufen ist, wird der ersuchende Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig.

LE, MA und PB stellten im Jahr 2019 Asylanträge in Deutschland. LE hatte zuvor einen Antrag auf internationalen Schutz in Italien gestellt. MA und PB waren illegal in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist und dort als Antragsteller auf internationalen Schutz registriert worden. Die zuständige deutsche Behörde ersuchte daher die italienischen Behörden auf Grundlage der Dublin-III-Verordnung um Übernahme von LE sowie um Aufnahme von MA und PB. Anschließend lehnte die deutsche Behörde die Asylanträge der Betroffenen als unzulässig ab und ordnete deren Abschiebung nach Italien an.

Im Februar 2020 teilten die italienischen Behörden den deutschen Behörden mit, dass aufgrund der Covid-19- Pandemie keine Überstellungen nach der Dublin-III-Verordnung von und nach Italien mehr erfolgten. Mit im März und im April 2020 ergangenen Entscheidungen setzte die zuständige deutsche Behörde die Durchführung der Anordnungen zur Abschiebung der Betroffenen in Anwendung u. a. dieser Verordnung bis auf Weiteres mit der Begründung aus, dass die Durchführung der Überstellungen in Anbetracht der Entwicklung der Covid-19-Pandemie nicht möglich sei.

Mit im Juni und im August 2020 ergangenen Entscheidungen hob das Verwaltungsgericht (Deutschland) die Entscheidungen auf, mit denen die Behörde die Asylanträge der Betroffenen als unzulässig abgelehnt und deren Abschiebung angeordnet hatte. Das Gericht stellte fest, dass die Zuständigkeit für die Prüfung der Asylanträge der Betroffenen auch unter der Annahme, dass sie bei Italien gelegen habe, aufgrund des Ablaufs der in der
Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen sei, da diese Frist durch die angeführten Aussetzungsentscheidungen nicht unterbrochen worden sei.

Das vorlegende Gericht, das mit den Sprungrevisionen gegen diese gerichtlichen Entscheidungen befasst ist, wirft die Frage auf, ob die gegenüber den Betroffenen ergangenen Entscheidungen, die Durchführung der Abschiebungsanordnungen auszusetzen, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist bewirken können.
Der Gerichtshof entscheidet, dass die in der Dublin-III-Verordnung vorgesehene Überstellungsfrist nicht unterbrochen wird, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats auf diese Verordnung gestützt eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung mit der Begründung erlassen, dass diese Vollziehung aufgrund der Covid-19-Pandemie praktisch unmöglich sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

Hierzu weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass in dem Fall, in dem die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung durch eine unter den Voraussetzungen der Dublin-III-Verordnung getroffene Entscheidung der zuständigen Behörden gewährt wird, die Überstellungsfrist ab der abschließenden Entscheidung über diesen Rechtsbehelf zu laufen beginnt, so dass die Durchführung der Überstellungsentscheidung spätestens sechs Monate nach der abschließenden Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgen muss. Diese Lösung setzt allerdings voraus, dass die Entscheidung über die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung von den zuständigen Behörden in den Grenzen des Anwendungsbereichs der Bestimmung getroffen wurde, die eine solche aufschiebende Wirkung vorsieht.
Zu diesem Anwendungsbereich führt der Gerichtshof zum einen aus, dass die Anwendung dieser Bestimmung in engem Zusammenhang mit der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung durch die betroffene Person steht, da die von den Behörden angeordnete aufschiebende Wirkung „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs“ eintreten muss.

Zum anderen gehört diese Bestimmung, was ihren Zusammenhang betrifft, zu einem mit „Verfahrensgarantien“ überschriebenen Abschnitt. Außerdem steht sie in einem Artikel mit der Überschrift „Rechtsmittel“ und folgt auf einen Absatz, der der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung gewidmet ist. Sie ergänzt diesen Absatz dadurch, dass sie die Mitgliedstaaten ermächtigt, den zuständigen Behörden zu gestatten, die Durchführung der Überstellungsentscheidung in den Fällen auszusetzen, in denen sich die aufschiebende Wirkung im Anschluss an die Einlegung eines Rechtsbehelfs weder kraft Gesetzes noch aus einer gerichtlichen Entscheidung ergibt.

Was schließlich die von der Dublin-III-Verordnung verfolgten Ziele betrifft, so soll die in dieser Verordnung gesetzte Überstellungsfrist von sechs Monaten gewährleisten, dass die betroffene Person tatsächlich so rasch wie möglich an den für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird. In Anbetracht der Unterbrechungswirkung, die die Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung auf die Überstellungsfrist hat, brächte eine Auslegung dieser Bestimmung dahin, dass sie die Mitgliedstaaten ermächtigen würde, den zuständigen Behörden zu gestatten, die Durchführung von Überstellungsentscheidungen aus einem Grund auszusetzen, der nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person steht, die Gefahr mit sich, der Überstellungsfrist jegliche Wirksamkeit zu nehmen, die sich aus der Dublin-III-Verordnung ergebende Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten zu verändern und die Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz dauerhaft in die Länge zu ziehen.

Der Gerichtshof geht daher davon aus, dass eine Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung von den zuständigen Behörden in dem hierzu durch die Dublin-III-Verordnung gesetzten Rahmen nur dann angeordnet werden darf, wenn die im Zusammenhang mit dieser Durchführung gegebenen Umstände erkennen lassen, dass der betroffenen Person, um ihr einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, zu gestatten ist, sich bis zum Erlass einer abschließenden Entscheidung über den Rechtsbehelf weiterhin im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufzuhalten, der die Überstellungsentscheidung getroffen hat. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung mit der Begründung, dass diese Durchführung praktisch unmöglich sei, in diesen Rahmen einzubeziehen ist. Mit dem Umstand, dass die tatsächliche Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung begründen könnte, lässt sich dieses Ergebnis nicht in Frage stellen. Zum einen steht die Widerruflichkeit einer Entscheidung über die Aussetzung einer Überstellungsentscheidung der Annahme entgegen, dass diese Aussetzung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung und mit dem Ziel angeordnet wurde, den gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person sicherzustellen, da nicht auszuschließen ist, dass es vor dem Abschluss dieses Rechtsbehelfs zu einem Widerruf der Aussetzung kommt. Zum anderen ergibt sich aus verschiedenen Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung, dass der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht war, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der Überstellungsfrist eigne.

Quelle: Presseerklärung des EuGH vom 22.09.2022