Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in der Rechtssache Yön gegen die Landeshauptstadt Stuttgart (C-123/17) entschiede, dass die Einführung der Visumpflicht für Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer, die sich in Deutschland rechtmäßig aufhalten, aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme gerechtfertigt sein kann, soweit die Einzelheiten ihrer Umsetzung nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen.
Das rechtliche Problem des Falles besteht darin, dass 1980 keine Visumpflicht für türkische Staatsangehörige, die im Wege des Familiennachzugs nach Deutschland reisen wollten, bestand. Die Visumpflicht wurde erst eingeführt, als eine Regelung zwischen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei in Kraft getreten war, die es den Vertragsparteien grundsätzlich untersagte, die Rechtslage zulasten türkischer Arbeitnehmer nachträglich zu verschlechtern (sogenannte assoziationsrechtliche Stillhalteklausel). Da die nachträglich eingeführte Visumpflicht für Familienangehörige zur Folge haben kann, dass der in Deutschland lebende Arbeitnehmer dauerhaft von seiner Familie getrennt wird, unterfällt diese Beschränkung dem Verschlechterungsverbot der Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 1/80. Insoweit bedurfte es der Klärung, ob die assoziationsrechtliche Stillhalteklausel der Einführung der Visumpflicht für Familienangehörige entgegensteht. Wäre dies der Fall gewesen, so könnten Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer ohne Visum nach Deutschland reisen, um hier die familiäre Lebensgemeinschaft zu begründen.
Im zu entscheidenden Fall ist die Klägerin türkische Staatsangehörige. Ihr Ehemann, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Deutschland. Mit einem Schengen-Visum reiste sie 2013 über die Niederlande nach Deutschland und beantragte im Mai 2013 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug. Sie leide an Krankheiten und sei außerdem Analphabetin, weshalb sie auf die Hilfe ihres Ehemannes angewiesen sei. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung ab, weil die Klägerin nicht nachgewiesen habe, dass sie sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen könne, und weil sie ohne das erforderliche nationale Visum nach Deutschland eingereist sei. Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben. Es war der Auffassung, beide Versagungsgründe könnten der Klägerin wegen der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel nicht entgegengehalten werden.
Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts sah Klärungsbedarf, ob das nach nationalem Recht bestehende Visumerfordernis beim Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer mit der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 vereinbar ist. Hinsichtlich der Vereinbarkeit des Spracherfordernisses mit Unionsrecht sah der Senat wegen der während des Klageverfahrens in Kraft getretenen Härteklausel (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG) keinen Klärungsbedarf mehr. Nach dieser vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigten Regelung ist vom Spracherfordernis abzusehen, wenn es dem Ehegatten aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse der deutschen Sprache zu unternehmen.
Der Gerichtshof der Europäischen Union hält die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/87 für anwendbar, und erklärt, dass die nachträgliche Beschränkung der Visumpflicht für Familienangehörige mit EU-Recht vereinbar ist, wenn diese durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.
Die Visumpflicht beruhe auf Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle sowie der Steuerung der Migrationsströme. Die Migrationssteuerung sei ein zwingender Grund des Allgemeininteresses, der eine nachträgliche Beschränkung der Visumfreiheit zu rechtfertigen vermöge. Entscheidend sei, ob die bestehende Verpflichtung, vor der Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet ein Visum zur Familienzusammenführung einzuholen, was Vorbedingung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung ist, verhältnismäßig sei. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange, dass die Einzelheiten der Umsetzung einer solchen Verpflichtung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass eine automatische Versagung einer Aufenthaltserlaubnis wegen der Verletzung der Visumpflicht unverhältnismäßig und damit mit EU-Recht unvereinbar wäre.
Da das deutsche Recht eine Härtefallklausel vorsieht, wonach von der Visumpflicht abgesehen werden kann, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren im Herkunftsland nachzuholen, sei eine Einzelfallentscheidung sichergestellt. Trotz eines Verstoßes gegen die Visumpflicht könne eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, sodass keine automatische Ablehnung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung stattfinde.
Der Gerichtshof hält diese Härtefallklausel grundsätzlich für geeignet, um unverhältnismäßige Ergebnisse zu vermeiden. Er macht aber für den konkreten Fall Folgendes deutlich:
„Sollte Frau Yön aufgrund gesundheitlicher Probleme oder anderer Schwierigkeiten so stark von der Hilfe und persönlichen Unterstützung ihres Ehemanns abhängig sein, dass er sie in die Türkei begleiten müsste, damit sie in diesem Drittstaat das Verfahren zur Erteilung des erforderlichen Visums nachholen kann, und sollte das den zuständigen Behörden eingeräumte Ermessen es ihnen unter solchen Umständen ermöglichen, nicht von der Visumpflicht abzusehen, obwohl sie bereits über alle für die Entscheidung über das Aufenthaltsrecht der Klägerin des Ausgangsverfahrens in Deutschland erforderlichen Gesichtspunkte verfügen – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, würde die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahme über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels erforderlich ist.
Unter solchen Umständen könnte nämlich nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass nur die Ausreise von Frau Yön aus dem deutschen Hoheitsgebiet, um in der Türkei das Verfahren zur Erteilung des erforderlichen Visums nachzuholen, die zuständige Behörde in die Lage versetzen würde, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts zur Familienzusammenführung zu beurteilen und damit die Verwirklichung des Ziels der effizienten Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme zu gewährleisten.
Dagegen müsste unter solchen Umständen der Ehemann von Frau Yön aufgrund ihrer Abhängigkeit von ihm seine Erwerbstätigkeit in Deutschland aufgeben, um mit seiner Ehefrau zur Durchführung eines Visumverfahrens in die Türkei zu reisen, ohne dass bei seiner Rückkehr aus der Türkei seine berufliche Wiedereingliederung gewährleistet wäre, obwohl die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung von den zuständigen Behörden in Deutschland geprüft werden könnten, so dass die Verwirklichung des genannten Ziels unter Vermeidung der angesprochenen Nachteile sichergestellt werden könnte.“
Einzelheiten zur Problematik finden sich im Kommentar zum ARB 1/80