Wehrdienstentziehung in Syrien begründet Anspruch auf Flüchtlingsschutz

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Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 19.11.2020 (C-238/19) entschieden, dass die Flucht vor dem Wehrdienst in Syrien mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Grund zur Verfolgung durch die dortigen Behörden darstellt. Im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien spreche eine starke Vermutung dafür, dass die Weigerung, Militärdienst zu leisten, mit einem Grund in Zusammenhang stehe, der einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könne. In vielen Fällen sei diese Weigerung nämlich Ausdruck politischer oder religiöser Überzeugungen oder habe ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Mit seinen Aussagen zur Kausalitätsprüfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund schafft der Gerichthof der Europäischen Union für Fälle der Wehrdienstentziehung Raum für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Bei der Vorlage des Verwaltungsgerichts Hannover geht es um die Frage, unter welchen Umständen eine wegen Wehrdienstentziehung drohende Verfolgung die Kriterien erfüllt, nach denen der Flüchtlingsschutz zu gewähren ist, der dem Asylbewerber rechtliche Vorteile bringt: Der Flüchtlingsstatus vermittelt (anders als der subsidiäre Schutzstatus) einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug der Kernfamilie und auch die aufenthaltsrechtliche Stellung ist im Hinblick auf die Dauer der Aufenthaltserlaubnis (drei Jahre/ 1 Jahr) sowie die Möglichkeiten, bei Erfüllung von weiteren Integrationsvoraussetzungen eine Niederlassungserlaubnis zu erhalten (vgl. § 26 Abs. 3 AufenthG) vorteilhafter.

 Eine besondere Rolle spielte in dem Verfahren die Regelung, wonach eine zum Flüchtlingsstatus führende Verfolgungshandlung bei einer Wehrdienstentziehung in Betracht kommt, wenn der Militärdienst völkerrechtswidrige Handlungen (also Kriegsverbrechen) umfassen würde (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG entspricht Art. 9 Abs. 2 lit. e EU-Qualifikationsrichtlinie).

Eine drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung stellt nämlich als solche keinen ausreichenden Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus dar, sofern die Strafe gesetzlich vorgesehen ist. Flüchtlingsrechtlich relevant kann eine drohende Verfolgung bei Wehrdienstentziehung dann sein, wenn bestimmte weitere Kriterien hinzukommen. Zu diesen weiteren Kriterien gehört nach der EU-Qualifikationsrichtlinie die drohende Bestrafung einer Wehrdienstentziehung, wenn der Militärdienst Kriegsverbrechen umfassen würde (Art. 9 Abs. 2 lit. e QRL, bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG).

Der Gerichthof der Europäischen Union kommt in seiner Entscheidung zu dem Ergebnis, dass „die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 QRL durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen" in einem Bürgerkrieg die Gefahr einer unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an diesen Verbrechen bereits vor Einziehung zum Militärdienst begründet. Damit stellt der Gerichtshof klar, dass ein drohender, verpflichtender Militärdienst in Syrien bereits eine Verfolgungshandlung im Sinne der Qualifikationsrichtlinie darstellt.

Der Zweite Leitsatz der Entscheidung lautet:

„2. Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in einem Konflikt verweigert, seinen künftigen militärischen Einsatzbereich aber nicht kennt, die Ableistung des Militärdienstes in einem Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfassen würde."

Allein das Vorliegen einer Verfolgungshandlung begründet aber noch keinen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes. Die Einziehung zum Wehrdienst muss – auch wenn die Begehung von Verbrechen droht – an einen Verfolgungsgrund anknüpfen.

Hierzu führt der Gerichthof aus (Randnummern 47 f.):

„In vielen Fällen ist die Verweigerung des Militärdienstes gewiss Ausdruck politischer Überzeugungen – sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen –, religiöser Überzeugungen oder hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. In diesen Fällen können die Verfolgungshandlungen, zu denen diese Verweigerung Anlass geben kann, diesen Gründen zugeordnet werden.

Wie die Generalanwältin in Nr. 67 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, kann die Verweigerung des Militärdienstes allerdings auch andere als die oben genannten fünf Verfolgungsgründe haben. Sie kann u. a. durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt."

Der EuGH weist mithin darauf hin, dass die Verweigerung des Militärdienstes im Einzelfall oft aufgrund der politischen oder religiösen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe beruhen wird und damit eine kausale Verbindung vorliegen wird. Er stellt jedoch zugleich klar, dass die Furcht vor den Gefahren des Militärdienstes in einem Bürgerkrieg allein nicht für kausale Verbindung zu einem Verfolgungsgrund ausreicht. Daher können und müssen die mit der Sache befassten Behörden und Gerichte prüfen, ob eine kausale Verbindung vorliegt.

Hier kommt die Frage auf, wie der syrische Asylbewerber die kausale Verknüpfung nachweisen kann. Die anzulegenden Prüfungsmaßstäbe konkretisiert der Gerichtshof in seiner Entscheidung. Ausgehend von Pflicht des Mitgliedstaates, den Antrag unter Mitwirkung der antragstellenden Person umfassend zu prüfen, kommt er zu dem Ergebnis, dass es nicht Sache der asylsuchenden Person sei, die Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu beweisen. Hat die asylsuchende Person die Verknüpfung plausibel gemacht, muss die prüfende Behörde vielmehr zugunsten des Asylbewerbers von der Vermutung ausgehen, dass eine solche Verknüpfung vorliegt (in dubio pro refugio). Im Leitsatz 4 findet sich hierzu folgende Aussage:

„Allerdings spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht."

In diesem Kontext betont der Gerichtshof, dass „in einem bewaffneten Konflikt, insbesondere einem Bürgerkrieg, und bei fehlender legaler Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, die hohe Wahrscheinlichkeit [besteht], dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden […] als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird."

Die bisherige Rechtsprechung, die auf die Nachweispflicht der asylsuchenden Personen abstellt, ist mit den von Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen nicht vereinbar und damit unionsrechtswidrig. Eine unaufklärbare Situation (non liquet) wirkt bei plausiblen Angaben der antragstellenden Person zu ihren Gunsten. Im Zweifel müssen Behörden und Gerichte also schutzorientiert von dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft ausgehen.

Weiterführend die Darstellung von Constantin Hruschka