Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) soll auch die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Berücksichtigung von Abschiebungsverboten vor Erlass einer Rückführungsentscheidung in Form einer Abschiebungsandrohung umgesetzt werden. Der Gerichtshof hat in mehreren Verfahren mit Verweis auf Artikel 5 Buchstabe a bis c der Rückführungsrichtlinie entschieden, dass bei Vorliegen der dort aufgeführten Gründe für ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Kindeswohl, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand, keine Rückkehrentscheidung und somit keine Abschiebungsandrohung erlassen werden darf.
Mit der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie macht Deutschland zugleich auch von der in Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b der Rückführungsrichtlinie geregelten Möglichkeit umfassend Gebrauch, die Rückführungsrichtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.
§ 59 AufenthG soll wie folgt geändert werden:
- a) In Absatz 1 werden nach dem Wort „anzudrohen“ die Wörter „, wenn keine Abschiebungsverbote vorliegen und der Abschiebung das Kindeswohl, familiäre Bindungen oder der Gesundheitszustand des Ausländers nicht entgegenstehen“ angefügt.
- b) Absatz 3 Satz 1 wird wie folgt gefasst: „Dem Erlass der Androhung stehen Abschiebungsverbote und die in Absatz 1 Satz 1 genannten Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen, wenn der Ausländer aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ausreisepflichtig ist oder gegen ihn ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“
Mit Blick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist die Änderung zu begrüßen, da nunmehr klargestellt wird, dass sowohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als auch die Ausländerbehörden bei Erlass einer Abschiebungsandrohung Duldungsgründe zu prüfen haben, soweit Art. 5 Buchst. a und c der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, Seite 98 – Rückführungsrichtlinie) Anwendung findet (OVG Bautzen, Beschluss vom 7. Juni 2023 - 4 EO 626/22 -, Rdnr. 19 m.w.N.).
Der Gerichtshof hat mit Beschluss vom 15. Februar 2023 (GS, C-484/22 -, Rdnr. 29) in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG den Mitgliedstaat zwingend verpflichtet, vor Erlass einer Rückkehrentscheidung, d. h. im deutschen Ausländerrecht einer Abschiebungsandrohung (BVerwG, Beschluss vom 8. Juni 2022 - 1 C 24.21 -, Rdnr. 18 und Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 -, Rdnr. 41), eine umfassende konkret-individuelle Beurteilung der familiären Situation des Ausländers vorzunehmen und dabei das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen zu berücksichtigen, und dass es nicht ausreicht, wenn die Berücksichtigung dieser Belange erst nach Erlass der Rückkehrentscheidung im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens durch Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG erfolgt (so auch OVG Weimar, Beschluss vom 7. Juni 2023 - 4 EO 626/22 -, Rdnr. 15; VGH München, Beschluss vom 1. August 2023 - 6 ZB 22.31073 -, Rdnr. 28). Dabei hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung nicht nur auf Fälle beschränkt, in denen ein Minderjähriger sich gegen eine drohende Abschiebung wendet, sondern die Prüfung von Duldungsgründen ausdrücklich auch auf einen Elternteil erstreckt, der sich auf das Wohl seines minderjährigen Kindes berief (EuGH, Urteil vom 11. März 2021, M.A. - C-112/20 - Rdnr. 41 ff.). Der Gerichtshof hat klargestellt, dass sich aus Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG nicht ableiten lässt, dass das Kindeswohl nur dann zu berücksichtigen ist, wenn die Rückkehrentscheidung gegen einen Minderjährigen ergeht, sondern auch dann, wenn sie gegen seine Eltern ergeht (EuGH, Urteil vom 11. März 2021, M.A. - C-112/20 -, Rdnr. 33 unter Hinweis auf Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. - C-82/16 -, Rdnr. 107). Anders als Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG spricht Art. 5 Buchst. c nämlich ausdrücklich davon, dass die Mitgliedstaaten den Gesundheitszustand des „betreffenden Drittstaatsangehörigen“ - also ausschließlich den Gesundheitszustand des Adressaten der Rückkehrentscheidung - in gebührender Weise zu berücksichtigen haben (EuGH, Urteil vom 11. März 2021, a.a.O., Rdnr. 40). Zudem muss das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU (ABl. C 303 vom 12. Dezember 2007, Seite 1 ff.), auf das sich auch ein Elternteil berufen kann, mit Blick auf die in Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerten Verpflichtung, das Kindeswohl zu beachten, ausgelegt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2021, M.A., a.a.O., Rdnr. 41 unter Hinweis auf das Urteil vom 26. März 2019, SM - C-129/18 -, Rdnr. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Des Weiteren ist bei Erlass einer Abschiebungsandrohung auch der Gesundheitszustand des Ausländers nach Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2008/115/EG zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 27. April 2023, M.D. - C-528/21 -, Rdnr. 89, 91). Denn der Gerichtshof der Europäischen Union hat bereits mit Urteil vom 22. November 2022 (X - C-69/21 -, Rdnr. 76) entschieden, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta der Grundrechte der EU sowie mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung oder einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen einen illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer schweren Krankheit leidet, entgegensteht, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene in dem Drittstaat, in den er abgeschoben würde, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist.