Deutschland hat über acht Jahre hinweg eine zwingend erforderliche Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU verschleppt. Weder der Bericht der EU-Kommission vom 10. Dezember 2008 über die – aus ihrer Sicht – „enttäuschende“ Umsetzung der Unionsbürgerrichtlinie noch die konkrete Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drs. 16/11821) konnten die Bundesregierung bewegen, das Unionsrecht vollständig umzusetzen.
Die Fassade des Europäischen Musterschülers bröckelt ersichtlich, wenn man die Hartnäckigkeit sieht, mit der die erforderliche Umsetzung des Unionsrechts trotz Kenntnis der Rechtslage verweigert wurde und wird.
Nach erneuter Aufforderung der Europäischen Kommission und erneuter Prüfung im Lichte der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung, insbesondere des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2012 in der Rechtssache C-83/11 (Rahman), kommt die Bundesregierung zu der Auffassung, dass die Umsetzung der Richtlinienbestimmung des Artikels 3 Abs. 2 Buchstabe a für Familienangehörige der Seitenlinien (Onkel, Tante, Neffe usw.) in deutsches Recht nicht ausreichend ist.
Hierzu zunächst der Text des Artikels 3 Abs. 2 Buchstabe a der Unionsbürgerrichtlinie
"(2) Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:
a) jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen"
Mit der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage vom 18. Februar 2009 (Drs. 16/12013) wurde die Anpassung des nationalen Rechts abgelehnt:
„Die Einreise und der Aufenthalt von Personen, die kein persönliches Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt haben und deren Aufenthalt nach Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe a der Freizügigkeitsrichtlinie erleichtert werden soll, richtet sich nach § 36 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Danach kann sonstigen Familienangehörigen zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.“
Es bedurfte erst eines Vertragsverletzungsverfahrens der Europäischen Kommission (Nummer 2011/2086), das die Umsetzung des Artikels 3 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionbürgerrichtlinie) sowie der damit korrespondierenden Formvorschriften des Artikels 10 Absatz 3 Buchstabe e und f der Unionbürgerrichtlinie betrifft, um das Innenministerium zum Handeln zu bewegen. Folgende Regelung soll in das Freizügigkeitsgesetz/EU aufgenommen werden:
„§ 3a
Aufenthalt anderer Verwandter von Unionsbürgern
(1) Einem anderen Verwandten eines Unionsbürgers, der selbst nicht Unionsbürger und nicht nach den §§ 3 oder 4 freizügigkeitsberechtigt ist, kann ein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verliehen werden, wenn
1. der Unionsbürger zum Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung dem anderen Verwandten seit mindestens zwei Jahren und nicht nur vorübergehend Unterhalt gewährt,
2. der Unionsbürger mit dem anderen Verwandten in dem Staat, in dem der andere Verwandte vor der Verlegung des Wohnsitzes nach Deutschland gelebt hat oder lebt, in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat und die häusliche Gemeinschaft zwischen dem Unionsbürger und dem anderen Verwandten mindestens zwei Jahre bestanden hat oder
3. nicht nur vorübergehend schwerwiegende gesundheitliche Gründe zum Antragszeitpunkt die persönliche Pflege des anderen Verwandten durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen.
§ 5 des Aufenthaltsgesetzes ist entsprechend anzuwenden. Bei Verleihung des Rechts nach Satz 1 stellt die zuständige Behörde eine Aufenthaltskarte aus. Den Inhabern des Rechts ist eine Erwerbstätigkeit erlaubt.
(2) Bei der Entscheidung über die Verleihung eines Rechts nach Absatz 1 ist maßgeblich zu berücksichtigen, ob der Aufenthalt des anderen Verwandten unter Berücksichtigung des Grades der finanziellen oder physischen Abhängigkeit und des Grades der Verwandtschaft zwischen dem anderen Verwandten und dem Unionsbürger zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist.
(3) § 9 des Aufenthaltsgesetzes findet auf Personen, denen ein Recht nach Absatz 1 verliehen worden ist, keine Anwendung.“
Erschreckend ist nur, dass auch mit der nun geplanten Umsetzung wieder nur ein Teil des Unionsrechts umgesetzt werden soll. Offensichtlich verfährt das Innenministerium nach der Devise: Was keiner weiß, macht mich nicht heiß! Da es den Mitarbeitern im Fachministerium nicht an Kompetenz fehlt - dies muss wohl unterstellt werden -, kann es nur Absicht sein, wenn die unmittelbar unter der umzusetzenden Regelung für sonstige Angehörige von Unionbürgern stehende Bestimmung für de facto Lebenspartner nicht umgesetzt werden soll.
Hierzu zunächst der Text des Artikels 3 Abs. 2 Buchstabe b der Unionsbürgerrichtlinie
"(2) Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:
a) ...(siehe oben)
b) des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist."
Dass das Inneministerium Kenntnis von der fehlenden Umsetzung hatte, ergibt sich aus einer Antwort des Staatssekretärs Klaus-Dieter Fritsche vom 7. Oktober 2011 auf eine Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke zu den anhängigen Vertragsverletzungsverfahren. Hier führt der Staatssekretär auf Seite 25 auch das Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2011/2086 wegen unzureichender Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG auf und beschreibt den Gegegenstand des fehlenden Umsetzung auch mit folgender Formulierung:
- "die von Artikel 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG geforderte Erleichterung von Einreise und Aufenhalt von weiteren Familienangehörigen über die Kernfamilie hinaus (Geschwister, Onkel, Tanten, Neffen etc.) in bestimmten Härtefällen sowie
- die Rechte von Lebenspartnern von Unionbürgern auf Einreise und Aufenthalt."
Kenntnis von der fehlenden Umsetzung ist daher ersichtlich vorhanden, doch der geplante § 3a FreizügG/EU bleibt hinter der notwendigen Anpassung des Unionsrechts zurück, da der § 3 Abs. 2 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG, der unverheiratete de facto-Lebenspartner erfasst, nicht umgesetzt werden soll. Soweit in der Gesetzesbegründung die Auffassung vertreten wird, dass durch die Aufnahme von eingetragenen Partnerschaften in § 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU n.F. eine Umsetzung erfüllt sei,
"Durch die Klarstellung wird zudem Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe b der Freizügigkeitsrichtlinie rechtssicher umgesetzt, wodurch die Einreise und der Aufenthalt eines Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine „ordnungsgemäß bescheinigte“ dauerhafte Beziehung eingegangen ist, erleichtert wird. Es obliegt dem jeweiligen Mitgliedstaat zu bestimmen, welche Bescheinigungen er in diesem Sinne als „ordnungsgemäß“ ansieht."
verkennt diese Auslegung die Systematik der Unionbürgerrichtlinie. Denn eine „eingetragene Partnerschaft“ ist nach Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a der in Bezug genommenen Verordnung (EU) 2016/1104 eine rechtlich vorgesehene Form der Lebensgemeinschaft zweier Personen, deren Eintragung nach den betreffenden rechtlichen Vorschriften verbindlich ist und welche die in den betreffenden Vorschriften vorgesehenen rechtlichen Formvorschriften für ihre Begründung erfüllt. Die Verordnung erfasst damit ersichtlich keine de facto-Partnerschaften im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38.
Dass keine rechtlich verbindliche Lebenspartnerschaft in Art. 3 Abs. 2 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38 erfasst ist, ergibt sich unmittelbar aus der Systematik der Unionsbürgerrichtlinie. Neben den in Art. 2 Nr. 2 Buchst. c und d der Richtlinie 2004/38 genannten Verwandten in gerader absteigender und in gerader aufsteigender Linie sind „Familienangehörige“ im Sinne der Richtlinie 2004/38 nämlich der Ehegatte und der Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist. Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 ergänzt die durch die Richtlinie Berechtigten um „de[n] Lebenspartne[r], mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist“. Diese drei Fälle betreffen, wenn sie nicht bedeutungslos sein sollen, notwendig unterschiedliche, nach Maßgabe der rechtlichen Verbindlichkeit abgestufte Sachverhalte. Da einfache Beziehungen außerhalb jedes Rechtsverhältnisses in Art. 3 der Richtlinie 2004/38 aufgeführt sind und das Bestehen einer eingetragenen Partnerschaft in Art. 2 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie erwähnt ist, erfasst der Begriff „Lebenspartner“ eine Rechtsbeziehung, die rechtlich nicht verbindlich ist, d.h. nur faktisch besteht.
Auch vermag der Hinweis auf eine fehlende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht zu verfangen, da der Gerichthof bereits 2018 das Recht für diese de facto-Lebenspartner in der Rechtssache Banger in einem "Rückkehrerfall" konkretisiert hatte.
EuGH, U. v. 12.07.2018 – C-89/17 – Banger
Der Entscheidung ist auch zu entnehmen, dass andere EU-Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Bestimmungen seit Jahren weiter sind, als der "EU-Musterschüler" Deutschland.
Es wäre daher wünschenswert, wenn man sich auch in Deutschland weiter bemühen würde, das Unionsrecht vollständig umzusetzen. Aber: Wo ein politischer Wille fehlt, wird sich in der Rechtssetzung nichts bewegen!
Weitere Informationen finden Mitglieder von Migrationsrecht.net in der Kommentierung des FreizügG/EU unter § 3 FreizügG/EU.
Dr. Dienelt