Ausländersenat des Bundesverwaltungsgerichts verkennt das Verhältnis von Ausländer- und Sozialrecht

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Mit seiner Entscheidung vom 11. September 2019 (Az. 1 C 48.18)  hat der Ausländersenat des Bundesverwaltungsgerichts eine Entscheidung getroffen, die das selten verliehene Gütesiegel verdient: Nicht praxistauglich!

Der 1. Senat führt in der Presseerklärung zu der Entscheidung aus: „Wird davon ausgegangen, dass die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU nicht in einzelne Zeitabschnitte teilbar ist, kann sie grundsätzlich insgesamt keinen Bestand mehr haben, wenn der betroffene Unionsbürger oder sein Familienangehöriger im Verlauf des Verfahrens (neuerlich) freizügigkeitsberechtigt wird und die Behörde die Verlustfeststellung nur noch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum aufrechterhält.“

Warum diese merkwürdige Alternativerwägung getroffen und über die Presseerklärung verbreitet wird, ist unerfindlich. Warum eine Verlustfeststellung einer Ausländerbehörde rückwirkend auf den Zeitpunkt ihres Erlasses aufgehoben werden soll, obwohl diese dem Wiederentstehen der Freizügigkeit bereits dadurch Rechnung getragen hatte, indem sie die Verlustfeststellung für den Zeitpunkt des Neuerstehens der Freizügigkeit aufgehoben hatte, ist nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar.  Die Beteiligten streiten nicht mehr darüber, ob der Unionsbürger ausreisen muss, sondern ausschließlich über die Frage, ob er in der Vergangenheit Freizügigkeit in Anspruch nehmen konnte. Der 1. Senat neigt in der Presseerklärung zu dem für die Praxis fatalen Ergebnis, dass die Verlustfeststellung insgesamt aufzuheben sei.

Diese Entscheidung ist aufgrund mehrerer Gesichtspunkte nicht praxistauglich und widerspricht eindeutig dem Willen des Gesetzgebers. Zeichnete sich der Ausländersenat bislang durch seine Kenntnis im Sozialrecht aus, so scheinen sozialrechtliche Scheuklappen den Blick verengt zu haben. Auch wenn kaum denkbar ist, dass dem Senat die Auswirkungen seiner Rechtsprechung auf § 7 SGB II verborgen geblieben ist, ist der Vorsitzende des Senats doch als Kenner des Sozialrechts bekannt. Was gleichwohl der Grund dafür ist, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht in den Fokus der Entscheidung geraten ist, werden wohl erst die Entscheidungsgründe offenbaren. Jedenfalls knüpft das Sozialrecht an das Vorliegen der Verlustfeststellung der Ausländerbehörde nachteilige Rechtsfolgen. Denn die Frist für den Leistungsausschluss bzw. die Absenkung von Sozialleistungen für EU-Bürger, die sich nicht mehr Freizügigkeitsberechtigt im Bundesgebiet aufhalten, könnte ungehindert ablaufen, wenn die Ausländerbehörden verpflichtet wären, beim Anwachsen von Freizügigkeit eine rechtmäßig ergangene Verlustfeststellung aufzuheben. Die Tatbestandswirkung wird vom 1. Senat ausgehebelt, wenn bei Wiedererlangung der Freizügigkeit die Verlustfeststellung für die Vergangenheit nicht bestehen bleiben kann.

Nicht nur die Systematik des Sozialrechts leidet massiven Schaden, sondern es entsteht auch ein verehrendes Ergebnis im Bereich des Kindergeldbezugs. Nach der gesetzlichen Regelung des § 62 Absatz 2 Einkommensteuergesetz erhält ein „freizügigkeitsberechtigter“ Unionbürger Kindergeld. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Urteil vom 15.03.2017 – III R 32/15 und Beschluss vom 27.04.2015 – III B 127/14) geht die Freizügigkeitsberechtigung aber erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts auf Freizügigkeit verloren. Damit würde der Bezug von Kindergeld solange ermöglicht, bis die Ausländerbehörde eine Verlustfeststellung erlässt, die wirksam bleibt. Wird die Verlustfeststellung nachträglich aufgehoben, so muss rückwirkend auch das Kindergeld ausgezahlt werden.

Zuletzt bleibt die Frage, warum der Senat diesen Weg beschreitet. Er stützt sich auf eine alternative Begründung, was nichts anderes bedeutet, als dass die Entscheidung tragend auch auf andere Argumente gestützt wird. Ohne Not wird an das filigrane Verhältnis von Ausländer- und Sozialrecht die Axt angelegt. Weder das EU-Recht noch das Prozessrecht drängen ihn zu dieser Vorgehensweise. Wenn die Ausländerbehörde die Verlustfeststellung auf den zwischen den Beteiligten streitigen Zeitraum begrenzt, so ändert sich hierdurch der Streitgegenstand unmittelbar. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung dieser Verfügung kann kaum der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mehr sein.

Letztlich bleibt noch der Hinweis, dass auch die alternative Begründung zur Freizügigkeit aufgrund des Schulbesuchs nicht wirklich überzeugend ist. Hier scheut der Senat offensichtlich eine Vorlage, da der Gerichtshof der Europäischen Union durch seine extensiven Entscheidungen wenig Spielraum für eine realitätsnahe Auslegung des Art. 10 VO (EU) 492/2012 lässt. Einzelheiten zu einer möglichen restriktiven Auslegung des Rechts aus Art. 10 VO (EU) 492/2012 finden sich in der ausführlichen Kommentierung zu § 3 FreizügG/EU.

 

Mainz, 11.09.2019