Bundesverwaltungsgericht verpasst die Gelegenheit der Harmonisierung der unionsrechtlichen Einreisevoraussetzungen

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Ausweislich einer Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts hat der 1. Senat über die Rechtswirkungen eines Schengen-Visum, das von einem anderen Schengen-Staat ausgestellt wurde, entschieden. Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen, auch wenn der rechtliche Ansatz den EU-rechtlichen Vorgaben nicht hinreichend Rechnung trägt, insbesondere Art. 19 SDÜ nicht in den Blick  zu nehmen scheint.

Beantragt ein Ausländer, der mit einem von einem anderen Staat erteilten Schengen-Visum rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist ist, rechtzeitig die Erteilung eines Aufenthaltstitels, gilt das Visum weder fiktiv fort noch gilt sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde weiterhin als erlaubt. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit Urteil vom 19. November 2019 (BVerwG 1 C 22.18) entschieden.

Der 1984 geborene Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, begehrt die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 i.V.m. § 81 Abs. 3 AufenthG. Er ist mit einer afghanischen Staatsangehörigen verheiratet, der im Bundesgebiet die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde und die im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist. Der Kläger reiste im November 2015 mit einem von der spanischen Botschaft in Kabul (Afghanistan) erteilten, gültigen Schengen-Visum in das Bundesgebiet ein und beantragte vor dessen Ablauf eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, über deren Erteilung die Ausländerbehörde bislang nicht entschieden hat. Seine Klage auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 i.V.m. § 81 Abs. 3 AufenthG auszustellen. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts stelle das dem Kläger von der spanischen Botschaft in Kabul erteilte Schengen-Visum keinen Aufenthaltstitel i.S.d. § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dar, habe jedoch die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Bundesgebiet begründet.

Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat der Revision der Beklagten stattgegeben. Die Absätze 3 und 4 des § 81 AufenthG stehen in einem sich ausschließenden Alternativverhältnis. Das von einem anderen Staat erteilte Schengen-Visum ist ein Aufenthaltstitel im Sinne des Aufenthaltsgesetzes. Der in § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG enthaltene Ausschluss der fiktiven Fortgeltung eines Aufenthaltstitels erfasst mithin auch das dem Kläger von einer spanischen Stelle erteilte Schengen-Visum. Eine Beschränkung des Anwendungsbereichs allein auf von deutschen Behörden erteilte Schengen-Visa lässt sich mit dem Wortlaut dieser Bestimmungen und der europarechtlichen Konstruktion des Schengen-Visums nicht vereinbaren. Schengen-Visa werden nach Maßgabe des Visakodex nach dem einheitlichen, in allen Schengen-Staaten gleich anwendbarem Regime des Schengen-Rechts erteilt. Wegen der alternativen Anwendungsbereiche von § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG kommt dann auch eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG nicht in Betracht.

Mit dieser Begündung wird die im EU-Recht angelegte strenge Trennung zwischen Einreise und Aufenthalt aufgehoben und die deutsche Sichtweise, die mit einem Visum neben der Einreisegenehmigung zugleich auch einen rechtmäßigen Aufenthalt  verbindet, dem Unionsrecht übergestülpt. Der Senat übergeht damit die Systematik des EU-Rechts. Diese verbindet mit dem Schengen-Visum des Typs C (sog. "Kurzzeitvisum") zwar eine Einreisegenehmiung, solange das Visum nicht annulliert wurde, der Aufenthalt fließt aber unmittelbar aus Art. 19 SDÜ nach der Einreise. Ebenso wie bei Positivstaatern, die aufgrund der EU-VisumVO befreit in das Schengengebiet einreisen können, ermöglicht das Visum des Typs C auch nur die Einreise, nicht aber den anschließenden Aufenthalt. Der Aufenthalt des Positivstaaters beruht nach der Einreise auf Art. 20 SDÜ, der des Inhabers eines Schengen-Visums auf Art. 19 SDÜ. 

Es wird interessant sein, wie der Senat seine Auffassung, ein Schengen-Visum sei ein Aufenthaltstitel, der Einreise und Aufenthalt umfasst, begründet.  Hier besteht unter Umständen die Notwendigkeit einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, weil es den Mitgliestaaten verwehrt ist, die Rechtsstellung nach der Einreise im Hinblick die kongruenten unionsrechtlichen Vorgaben abweichend zu regeln.

Jedenfalls hat der 1. Senat die Gelegenheit verpasst, das Aufenthaltsrecht nach unionsrechtlich geregelter Einreise zu harmonisieren. Es wäre durchaus eine Erleichterung gewesen, wenn sowohl der Aufenthalt von Positivstaatern nach der EU-VisumVO als auch der Aufenthalt von Ausländern mit einem Schengen-Visum des Typs C vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Buchstaben a), c), d) und e) SGK abhängig gemacht worden wären. 

Im Ergebnis ist die Entscheidung aber zutreffend: Da der Kläger mit der Absicht eines Daueraufenthalts in das Bundesgebiet einreiste, liegen die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 SGK nicht vor; es fehlt an einem "geplanten" Kurzaufenthalt. Wegen seines gültigen Schengen-Visums des Typs C durfte der Kläger zwar in das Schengengebiet einreisen, sein Aufenthalt war aber nicht rechtmäßig, da er die Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 1 SDÜ i.V.m. Art. 6 Abs. 1 SGK nicht erfüllte. Er war damit weder im Besitz eines nationalen Aufenthaltstitels im Sinne des § 4 AufenthG noch hielt er sich rechtmäßig ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet auf. Insofern konnte weder die Titelfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG noch die Fiktion rechtmäßigen Aufenthalts nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zur Anwendung kommen.

Mainz, den 28.11.2019