Generalprävention kann ein Ausweisungsinteresse begründen

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Im Ausländerrecht können generalpräventive Gründe auch nach dem seit 2016 geltenden neuen Ausweisungsrecht ein Ausweisungsinteresse begründen, das der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis regelmäßig entgegensteht. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 12. Juli 2018 (Aktenzeichen BVerwG 1 C 16.17) entschieden.

Der Entscheidung lag die Klage eines nigerianischen Staatsangehörigen zugrunde, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen begehrt. Der Kläger lebt seit 2009 in Deutschland. Ein unter falscher Identität gestellter Asylantrag wurde rechtskräftig als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Seitdem hält sich der Kläger auf der Grundlage von Duldungen in Deutschland auf. Wegen wiederholter Zuwiderhandlungen gegen eine Aufenthaltsbeschränkung wurde er zweimal zu Geldstrafen verurteilt. Erst im Vorfeld der Geburt seines ersten deutschen Sohnes gab der Kläger im Januar 2013 seine wahre Identität bekannt und legte einen nigerianischen Pass vor. Im April 2013 lehnte die Ausländerbehörde die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Aufgrund der abgeurteilten Straftaten und der sich über mehrere Jahre erstreckenden Identitätstäuschung liege die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (kein Ausweisungsinteresse) nicht vor. Das Verwaltungsgericht wies die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Es bestehe ein Ausweisungsinteresse, um andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Taten abzuhalten. Der Verwaltungsgerichtshof hat das beklagte Land hingegen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Nach seiner Auffassung stehen ausschließlich generalpräventive Ausweisungsgründe nach Inkrafttreten des neuen Ausweisungsrechts der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht mehr entgegen.

BVerwG

Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat – abweichend vom Verwaltungsgerichtshof - entschieden, dass auch nach der seit dem 1. Januar 2016 geltenden Rechtslage generalpräventive Gründe weiterhin ein Ausweisungsinteresse rechtfertigen können. Der Gesetzeswortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG ist insoweit offen, weil danach nicht vom Ausländer selbst eine Gefahr ausgehen muss, sondern nur von „dessen Aufenthalt". Damit ist der in den Gesetzesmaterialien dokumentierte Wille des Gesetzgebers beachtlich, der weiterhin generalpräventiv begründete Ausweisungen ermöglichen wollte. Dies bestätigt die generalpräventive Ausrichtung des hier u.a. verwirklichten Ausweisungsinteresses der Identitätstäuschung (§ 54 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG). Allerdings muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell, d.h. zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch vorhanden sein. Dies orientiert sich bei Ausweisungsinteressen mit Bezug zu Straftaten an den Fristen der strafrechtlichen Verfolgungsverjährung (§ 78 ff. StGB). Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen nach dem Bundeszentralregistergesetz zudem eine absolute Obergrenze. Damit war die Identitätstäuschung hier noch zu berücksichtigen. Ist - wie hier - wegen einer Titelerteilungssperre (§ 10 Abs. 3 AufenthG) ein strikter Rechtsanspruch auf einen Aufenthaltstitel erforderlich, kann dem Kläger ohne eine vorherige Ausreise keine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen erteilt werden. Das anderslautende Urteil des Verwaltungsgerichtshofs war daher aufzuheben.

Der Verwaltungsgerichtshof wird allerdings noch zu prüfen haben, ob dem Kläger, der mittlerweile zwei minderjährige deutsche Kinder hat, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht. Dies könnte dann der Fall sein, wenn ein solches Abhängigkeitsverhältnis zwischen den bei ihrer Mutter lebenden Kindern und dem Kläger besteht, dass jene bei Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für den Kläger faktisch zum Verlassen der Europäischen Union gezwungen wären. Zur Nachholung der hierzu erforderlichen Feststellungen hat das Bundesverwaltungsgericht den Rechtsstreit an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.