1. Das in Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene Vier-Augen-Prinzip ist auf Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die nach Aufhebung der Richtlinie zum 30. April 2006 erlassen wurden, nicht aufgrund der Stand-Still-Klauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP anzuwenden.
  2. Seit Inkrafttreten der Änderung des § 11 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) haben Ausländer einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit Erlass einer Ausweisung zugleich deren in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 genannte Wirkungen (Einreise- und Aufenthaltsverbot, Titelerteilungssperre) befristet (Weiterentwicklung der Rechtsprechung im Urteil vom 14. Februar 2012 - BVerwG 1 C 7.11 - Rn. 28 f.).

Sperrwirkung der Abschiebung; nachträgliche Befristung der Sperrwirkung; Verbandskompetenz; örtliche Zuständigkeit; Annexzuständigkeit; Ausführung von Bundesrecht durch die Länder; gewöhnlicher Aufenthalt; Aufenthalt des Ausländers im Ausland.

Leitsätze:

1. Eine Annexzuständigkeit der eine Abschiebung anordnenden Ausländerbehörde für eine spätere Entscheidung über die Befristung ihrer Wirkungen nach § 11 Abs. 1 AufenthG besteht nicht.

2. Für die Entscheidung über einen Antrag auf Befristung der Wirkungen einer Abschiebung nach   § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind grundsätzlich die Ausländerbehörden des Bundeslandes zuständig, in dem der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte (entsprechende Anwendung der mit § 3 Abs. 1 Nr. 3a VwVfG des Bundes übereinstimmenden Regelungen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder). Die Zuständigkeit nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet besteht auch dann fort, wenn der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt nunmehr im Ausland genommen hat.

Urteil des 1. Senats vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 5.11

Abschiebungsandrohung; Abschiebungsschutz; Abschiebungsverbot; Aufenthaltsbeendigung; Aufnahme; Aufnahmezusage; Auslegung; Empfängerhorizont; jüdische Emigranten aus der früheren Sowjetunion; Kontingentflüchtling; Krankheit; maßgeblicher Zeitpunkt; Rechtsstellung; Statuserwerb; Refoulement-Verbot; Verwaltungsakt.

Leitsätze:

1. Für die gerichtliche Beurteilung einer Abschiebungsandrohung ist jedenfalls dann, wenn der Ausländer aufgrund der Androhung noch nicht abgeschoben wurde oder noch nicht freiwillig ausgereist ist, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich.

2. Jedenfalls seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes können sich jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion allein aufgrund ihrer Aufnahme nicht auf das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot (Refoulement-Verbot) berufen.

Urteil des 1. Senats vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 3.11

Aufnahme aus dem Ausland; Aufnahmezusage; jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion; Anordnung des Bundesministeriums des Innern; besonders gelagerte politische Interessen; politische Leitentscheidung; Ermessen; ermessensbindende Richtlinie; Auslegung; gerichtliche Kontrolle; Gleichbehandlungsanspruch; Verwaltungspraxis; jüdische Nationalität; jüdische Abstammung; Abstammung von einem jüdischen Elternteil; Nachweis; Personenstandsurkunde; Willkürkontrolle; Revisionsverfahren; Berücksichtigung nicht festgestellter Tatsachen.

Leitsatz:

Eine Anordnung des Bundesministeriums des Innern nach § 23 Abs. 2 AufenthG über die Aufnahme bestimmter Ausländergruppen begründet für die von ihr begünstigten Ausländer keine unmittelbaren Ansprüche auf Erteilung einer Aufnahmezusage. Es besteht lediglich ein Anspruch auf Gleichbehandlung nach Maßgabe der vom Bundesministerium des Innern gebilligten praktischen Anwendung der Anordnung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Urteil des 1. Senats vom 15. November 2011 - BVerwG 1 C 21.10

Niederlassungserlaubnis; Aufenthaltstitel; Ausreise; freiwillige Ausreise; erzwungene Ausreise; staatlich erzwungene Ausreise; privat erzwungene Ausreise; Auslieferung; Erlöschen; vorübergehender Grund; längerer Auslandsaufenthalt; Strafverfahren im Ausland; Fortbestand des Aufenthaltstitels; effektive Steuerung der Migration; Wiedereinreise.

Leitsatz:

Der Begriff der Ausreise in § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG erfasst nicht staatlich erzwungene bzw. veranlasste Ausreisen (hier durch Auslieferung).

Urteil des 1. Senats vom 17. Januar 2012 - BVerwG 1 C 1.11

Zwingende Ausweisung; Ermessensausweisung; gerichtliche Aufklärungspflicht; Verlagerung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts; neue entscheidungserhebliche Umstände; ursprünglich gebundener Verwaltungsakt; Nachholung einer Ermessensentscheidung; Nachschieben von Ermessenserwägungen; Grenzen der Nach- besserung; Vorrang des materiellen Rechts; formelle Anforderungen an die Nachbesserung; Flüchtlingsanerkennung; besonderer Ausweisungsschutz.

Leitsätze:

1. § 114 Satz 2 VwGO schließt es im Rechtsstreit um die Ausweisung eines Ausländers nicht aus, eine behördliche Ermessensentscheidung erstmals im gerichtlichen Verfahren zu treffen und zur gerichtlichen Prüfung zu stellen, wenn sich aufgrund neuer Umstände die Notwendigkeit einer Ermessensausübung erst nach Klageerhebung ergibt.

2. Bei der Nachholung einer behördlichen Ermessensentscheidung, aber auch allgemein bei der Ergänzung von behördlichen Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren muss die Behörde klar und eindeutig zu erkennen geben, mit welcher Begründung sie den angefochtenen Bescheid nunmehr aufrechterhält.

Urteil des 1. Senats vom 13. Dezember 2011 - BVerwG 1 C 14.10

Schengen-Visum; Besuchsvisum; kurzfristiger Aufenthalt; einheitliches Visum; Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit; Visumantrag; Auslegung; Reisedaten; Verpflichtungsklage; Erledigung; Rückkehrbereitschaft; rechtswidrige Einwanderung; Gefahr für die öffentliche Ordnung; familiäre Bindungen; Ehemann; Vater.

Leitsatz:

Die materiellen Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe des Visakodex für ein Schengen-Visum zu Besuchszwecken, nach denen u.a. zu prüfen ist, ob begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft des Antragstellers bestehen, werden durch das zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Ukraine geschlossene Visaerleichterungsabkommen weder verdrängt noch modifiziert.

Urteil des 1. Senats vom 15. November 2011 - BVerwG 1 C 15.10

Ausweisung; Unterstützung des Terrorismus; individuelle Unterstützung; Unterstützung durch eine Vereinigung; Sympathiewerbung; Beweismaßstab; Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland; Unionsbürgerschaft; Freizügigkeit; Erledigung; Wohnsitzbeschränkung; Meldeauflage.

Leitsätze:

1. Bei dem Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG muss zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen, dass eine Vereinigung den Terrorismus unterstützt. Für die erforderliche individuelle Unterstützung einer solchen Vereinigung durch den einzelnen Ausländer genügt es dagegen, dass Tatsachen eine entsprechende Schlussfolgerung rechtfertigen.

2. Ob eine Vereinigung den Terrorismus im Sinne von § 54 Nr. 5 AufenthG unterstützt, ist unabhängig von der strafrechtlichen Auslegung von § 129a StGB zu bestimmen. Der Begriff der Unterstützung umfasst auch die Sympathiewerbung. Eine Unterstützung des Terrorismus durch die Vereinigung setzt voraus, dass die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung (auch) auf die Unterstützung des Terrorismus gerichtet sind. Ein bloßes Ausnutzen der Strukturen einer Vereinigung durch Dritte in Einzelfällen reicht hierfür nicht aus.

Urteil des 1. Senats vom 25. Oktober 2011 - BVerwG 1 C 13.10

Niederlassungserlaubnis; Voraufenthaltszeiten; Sieben-Jahres-Frist; Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen; Titelbesitz; Anrechnung; Aufenthaltszeiten; Asylverfahren; Unterbrechung; Duldung; Ermessen; Integration; Aufenthaltsverfestigung; Kindernachzug; Sicherung des Lebensunterhalts.

Leitsätze:

1. Auf den für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erforderlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis seit sieben Jahren ist die Aufenthaltszeit des Asylverfahrens, das der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangen ist, nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG auch dann anzurechnen, wenn zwischen dem Abschluss des Asylverfahrens und der ersten Erteilung der Aufenthaltserlaubnis der Aufenthalt des Ausländers über einen längeren Zeitraum nur geduldet war.

2. Die Ausländerbehörde kann im Rahmen des ihr bei der Erteilung einer Niederlassungs- erlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG eröffneten Ermessens mit Blick auf die Gesamtumstände des Falles eine gewisse Mindestzeit des Besitzes eines Aufenthaltstitels verlangen und die Gründe für eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach Abschluss des Asylverfahrens berücksichtigen.

Urteil des 1. Senats vom 13. September 2011 - BVerwG 1 C 17.10 

Niederlassungserlaubnis; Sicherung des Lebensunterhalts; Erteilungsvoraussetzung; Ausnahme vom Regelfall; Einkommensberechnung; Hilfebedürftigkeit; Unterhaltsbedarf; Bedarfsgemeinschaft; familiäre Lebensgemeinschaft; deutsche Familienangehörige; öffentliche Mittel; Sozialhilfebezug.

Leitsätze:

1. Für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist neben der Erfüllung der dort genannten speziellen Voraussetzungen auch erforderlich, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt ist.

2. Ist der Ausländer nur deshalb auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) angewiesen, weil er mit seinen deutschen Familienangehörigen in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, könnte er aber mit seinem Erwerbseinkommen seinen eigenen Bedarf decken, so ist bei Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu machen.

  1. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG können bei strafrechtlichen Verurteilungen ausnahmsweise auch dann vorliegen, wenn von dem Ausländer selbst keine Wiederholungsgefahr mehr ausgeht, wegen der besonderen Schwere der Straftat aber ein dringendes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung generalpräventiv andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung). Dies gilt grundsätzlich auch bei in Deutschland verwurzelten Ausländern.
  2. Eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung muss zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit in ihren Wirkungen zugleich von Amts wegen befristet werden. Fehlt es an einer solchen Befristung kann der Ausländer diese im Rechtsstreit um die Ausweisung mit dem im Klagebegehren als minus enthaltenen hilfsweisen Verpflichtungsantrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung erstreiten.
  3. Die Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung ist nach Inkrafttreten der Änderung des § 11 Abs. 1 AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) auch hinsichtlich der Dauer der Befristung gerichtlich voll überprüfbar.

Aufenthaltserlaubnis; Ehegattennachzug zu Deutschen; Einreise; Heirat in Dänemark; drittstaatsangehöriger Ehegatte; Schengen-Visum; Besuchsvisum;
nationales Visum; erforderliches Visum; Visumerfordernis; Rechtsanspruch auf
Aufenthaltserlaubnis; Nachholung des Visumverfahrens; unionsrechtliches Aufenthaltsrecht; unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht; Unionsbürgerschaft; Rückkehrerfälle; Inländerdiskriminierung.

Leitsätze:

1. Dem drittstaatsangehörigen Ehegatten eines deutschen Staatsangehörigen
steht ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Anwendung der Rechtsprechung
des Gerichtshofs der Europäischen Union in den sog. Rückkehrerfällen nur dann zu, wenn der deutsche Staatsangehörige von seinem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht nachhaltig Gebrauch gemacht hat. Dafür reicht ein Kurzaufenthalt zum Zweck der Eheschließung in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Dänemark) nicht aus (wie Urteil vom 16. November 2010 - BVerwG 1 C 17.09).

2. Welches Visum als das erforderliche Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (wie Urteil vom 16. November 2010 - BVerwG 1 C 17.09).

3. Einreise im Sinne des § 39 Nr. 3 AufenthV ist die letzte Einreise in die Bundesrepublik Deutschland.

4. Für die Beurteilung, wann die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung
eines Aufenthaltstitels im Sinne des § 39 Nr. 3 AufenthV entstanden sind, ist auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem das zentrale, den Aufenthaltszweck kennzeichnende Merkmal der jeweiligen Anspruchsnorm (hier: Eheschließung
gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) erfüllt worden ist.

Urteil des 1. Senats vom 11. Januar 2011 (BVerwG 1 C 23.09)

Aufenthaltserlaubnis; Aufenthaltserlaubnis auf Probe; Altfallregelung; Bleiberechtserlass; Straftat; Tilgung; Zurechnung von Straftaten; Familieneinheit;
Ehegatte; Schutz der Ehe; Lebenspartnerschaft; nichteheliche Lebensgemeinschaft; minderjährige Kinder; Streitgegenstand; Trennungsprinzip.

Leitsätze:

1. Das Begehren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG stellt gegenüber sonstigen Ansprüchen auf Erteilung einer Aufenthalterlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes einen abtrennbaren eigenständigen Streitgegenstand dar.

2. Solange eine Verurteilung wegen einer Straftat im Sinne von § 104a Abs. 1
Satz 1 Nr. 6 AufenthG nach den Regelungen des Bundeszentralregistergesetzes
nicht zu tilgen ist, ist die Verurteilung auch im Rahmen von § 104a AufenthG verwertbar.

3. Die in § 104a Abs. 3 AufenthG vorgesehene Zurechnung von Straftaten von
in häuslicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten untereinander ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Urteil des 1. Senats vom 11. Januar 2011 (BVerwG 1 C 22.09)

Internationale Adoption; Kafala; gelebtes Pflegekindschaftsverhältnis; Adoptionsvermittlungsverfahren; Fachvermittlung; Kindeswohl; Kinderhandel; Elterneignung; Einreisevisum; begründeter Fall.;

Leitsatz:

1. Die Erteilung eines Visums zum Zwecke der Adoption eines Kindes aus einem Staat, der dem Haager Adoptionsübereinkommen nicht beigetreten ist, richtet sich nach § 6 Abs. 4 i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.

2. Wird zu diesem Zweck ein Einreisevisum beantragt, liegt ein "begründeter Fall" im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG grundsätzlich nur vor, wenn das im Adoptionsvermittlungsgesetz geregelte internationale Adoptionsvermittlungsverfahren vollständig durchgeführt worden ist und mit einer positiven Empfehlung der zuständigen Adoptionsvermittlungsstelle geendet hat.

Urteil des 1. Senats vom 26. Oktober 2010 (BVerwG 1 C 16.09)

Niederlassungserlaubnis; Ausweisungsgründe; Straftaten; Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung; fiktive Fortgeltung einer Aufenthaltserlaubnis; Sicherung des Lebensunterhalts; Erteilungsvoraussetzung; Einkommensberechnung; Unterhaltsbedarf; Bedarfsgemeinschaft; familiäre Lebensgemeinschaft; öffentliche Mittel; Sozialhilfebezug; horizontale Berechnungsmethode; Freibetrag für Erwerbstätigkeit; Werbungskostenpauschale; Kinderzuschlag.;

Leitsatz:

1. Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG nicht schon dann gesichert, wenn der Ausländer mit seinem Erwerbseinkommen seinen eigenen Bedarf decken könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber auf Leistungen nach dem Zweiten Teil des Sozialgesetzbuches (SGB II) angewiesen ist. Für die Berechnung, ob ein Anspruch auf öffentliche Leistungen besteht, gelten grundsätzlich die sozialrechtlichen Regelungen über die Bedarfsgemeinschaft.

2. Außerhalb des Anwendungsbereichs der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG) oder sonstiger unionsrechtlicher Vorgaben sind aufenthaltsrechtlich bei der Berechnung des Hilfebedarfs auch weiterhin die Bestimmungen des SGB II hinsichtlich des Freibetrags für Erwerbstätigkeit nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II und der Werbungskostenpauschale nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II maßgebend.

3. Soweit bei der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis Ausweisungsgründe vorliegen, die sich auf Straftaten des Ausländers beziehen, wird die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG durch die Sonderregelung in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG verdrängt.

Urteil des 1. Senats vom 16. November 2010 (BVerwG 1 C 21.09)

Schengen-Visum; Besuchsvisum; kurzfristiger Aufenthalt; einheitliches Visum; Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit; Visumantrag; Besuchswunsch; Auslegung; Reisedaten; Verpflichtungsklage; Erledigung; Rechtsschutzbedürfnis; Fortsetzungsfeststellungsklage; Rückkehrbereitschaft; rechtswidrige Einwanderung; Gefahr für die öffentliche Ordnung; familiäre Bindungen; Familie; nahe Familienangehörige; elterliches Umgangsrecht; Wohl des Kindes.;

Leitsatz:

1. Ein Antrag auf Erteilung eines Schengen-Visums für einen kurzfristigen Besuchsaufenthalt ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte dahin auszulegen, dass der Antragsteller auch nach Ablauf des bei Antragstellung angegebenen geplanten Aufenthaltszeitraums an seinem Besuchswunsch festhält.

2. Begründete Zweifel an der Rückkehrbereitschaft stehen nach dem Visakodex der Erteilung eines einheitlichen, für das gesamte Gebiet der Mitgliedstaaten gültigen Visums zwingend entgegen.

3. In diesen Fällen verbleibt den Mitgliedstaaten nach Art. 25 Abs. 1 Buchst. a Nr. i Visakodex die Befugnis, in Ausnahmefällen ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit für ihr Hoheitsgebiet zu erteilen, etwa zum Besuch eines nahen Familienangehörigen, wenn dies mit Blick auf den besonderen Schutz familiärer Bindungen nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GR-Charta erforderlich ist (hier: verneint).

Urteil des 1. Senats vom 11. Januar 2011 (BVerwG 1 C 1.10)  

Visum; Aufenthaltserlaubnis; Familienzusammenführung; Ehegattennachzug; Sicherung des Lebensunterhalts; Sozialhilfebezug; Unterhaltsbedarf; Bedarfsgemeinschaft; Einkommensberechnung; Erwerbstätigenfreibetrag; Regelerteilungsvoraussetzung; Ausnahme; Nebenbestimmung; Erlöschen; Werbungskosten.;

Leitsatz:

1. Beim Ehegattennachzug nach § 30 AufenthG ist die Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG) nicht schon dann erfüllt, wenn der nachziehende Ehegatte mit seinem Erwerbseinkommen seinen eigenen Bedarf decken könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber auf Leistungen nach dem Zweiten Teil des Sozialgesetzbuchs (SGB II) angewiesen ist. In solchen Fällen bleibt jedoch zu prüfen, ob nicht besondere Umstände die Annahme eines Ausnahmefalles rechtfertigen.

2. Der Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG erfasst nicht den Bezug von Leistungen nach dem SGB II.

3. Im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) darf bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG der Freibetrag für Erwerbstätigkeit nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II nicht zu Lasten des nachzugswilligen Ausländers angerechnet werden. Bei den in § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II pauschaliert erfassten Werbungskosten hat der Ausländer die Möglichkeit, geringere Aufwendungen als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachzuweisen.

Urteil des 1. Senats vom 16.12.2009 (BVerwG 1 C 20.09)

Aufenthaltserlaubnis; Altfallregelung; Bleiberecht; Ausschlussgrund; Ausweisungsgrund; Versagungsgrund; Terrorismus; terroristische Organisation; " Ansar al-Islam" Unterstützen; Bezüge; Kontakte; Distanzierung; Lebensunterhalt; maßgeblicher Zeitpunkt; Sach- und Rechtslage; Befristung; Klageänderung; Rechtsschutzbedürfnis.;

Leitsatz:

1. Den beiden negativen Tatbestandsmerkmalen in dem Ausschlussgrund des § 104a Abs. 1 Nr. 5 AufenthG kommt jeweils eigenständige Bedeutung zu.

2. Unterhält ein Ausländer zu führenden Mitgliedern einer terroristischen Organisation Kontakte, die eine gewisse Intensität aufweisen, und weiß er um die Einbindung der Personen in die terroristische Organisation oder müsste er dies wissen, spricht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass er Bezüge zu dieser terroristischen Organisation im Sinne des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 Alt. 1 AufenthG hat.

3. Bestanden derartige Verbindungen in der Vergangenheit und konnte der Ausländer die Vermutung nicht widerlegen, wirkt dieser Sachverhalt in die Gegenwart fort, solange es an einer glaubhaften Distanzierung des Ausländers von der Organisation und ihrer terroristischen Zielsetzung fehlt.

Urteil des 1. Senats vom 26.10.2010 (BVerwG 1 C 19.09)

Abschiebungsverbot; Aufenthaltsbeendigung; Aufenthaltserlaubnis; ausländisches Recht; Altfallregelung; Behindern; Bleiberecht; Ausschlussgrund; Hinauszögern; Mitwirkung; Privatleben; Verwurzelung; Verschulden; Vorsatz.;

Leitsatz:

1. Fordert die Ausländerbehörde einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer auf, eine ihm zumutbare Mitwirkungshandlung zur Beseitigung eines Ausreisehindernisses vorzunehmen (hier: einen Antrag auf Ausstellung eines Passersatzpapiers zu unterschreiben), und verweigert der Ausländer diese Mitwirkung, dann behindert er vorsätzlich behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung im Sinne von § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG (wie Urteil vom 10. November 2009 - BVerwG 1 C 19.08 - BVerwGE 135, 219).

2. § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt nicht voraus, dass eine behördliche Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung bereits konkret eingeleitet worden war.

Ehegattennachzug; Familienzusammenführung; Sicherung des Lebensunterhalts; Regelerteilungsvoraussetzung; Ausnahme; Regelausweisung; Ermessen; Schutz von Ehe und Familie; Verwurzelung.

Leitsatz:
Von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann nicht nach Ermessen abgesehen werden. Vielmehr stellt es eine gerichtlich voll überprüfbare gebundene Entscheidung dar, ob ein Ausnahmefall von der Regel vorliegt.

Urteil des 1. Senats vom 30. April 2009 BVerwG 1 C 3.08